Timebox: Wir nehmen uns Automaten zum Vorbild

jvhNew articles

Automaten


Sind die Ressourcen begrenzt, nutzt man sie effizienter, besser, als wenn sie im Überfluss vorhanden sind. Es ist im Arbeitsleben so, beim öffentlichen und privaten Haushalten, in den Künsten und natürlich verhält es sich auch bei unserem menschlich-allzu menschlichen Umgang mit der Zeit so, jedenfalls solange wir immerhin noch so viel davon haben, dass uns Panik und Stress nicht außer Gefecht setzen. Natürlich kann man sich knappe Zeit, sollte man nicht aus Zeit-Not von ihr betroffen oder gesegnet (?) sein, auch freiwillig, selbstbestimmt verpassen. Das nennt sich neudeutsch „Timeboxing“.

Ein alter Hut

Innovativ oder auch nur neuartig am Timeboxing ist nichts. Das Projekt Management-Prinzip ist deswegen aber natürlich nicht falsch oder schlecht. Die „Idee“ scheint, mindestens auf den ersten Blick, im Gegenteil sehr vernünftig: Um unsere Ziele zu verwirklichen, ist es grundsätzlich sinnvoll, nicht ohne Ende bei wenigen Aufgaben und Themen zu verweilen, weil wir als Perfektionisten oder undisziplinierte Teams vor lauter Baum den Wald nicht mehr sehen.

‚Viel‘ ist nicht ‚gut‘

Andererseits ist aber genauso richtig, dass eine Aufgabe nicht allein deswegen abgehakt werden sollte, weil die Zeit, die für ihre Befassung vorgesehen wurde, abgelaufen ist. Das Dilemma zwischen dem Streben nach guten Ergebnissen einerseits und knappen Zeitkontingenten zur Realisierung aller unserer Ziele andererseits, ist den agilen Timeboxern durchaus bewusst. Sie unterscheiden deswegen zwischen „hartem“ und „weichen“ Timeboxing. Beim harten läuft die Stoppuhr, beim weichen läuft die Uhr zwar auch. Sie ist aber nur ein Erfolgsfaktor und nicht der einzige.

Hauptsache, wir fangen mal an?

Nun behaupten zwar auch die harten Timebox-Advokaten nicht, jedes Zwischenergebnis, das am Ende eines Prozesses aus der Zeitkiste kriecht, sei zwingend ein gutes Ergebnis. Doch was sie sagen, läuft praktisch auf das Gleiche hinaus. Sie sagen, es spiele keine Rolle, wie gut oder schlecht ein Zwischenergebnis ist. „Macht nix”, sagen sie, „Hauptsache, wir haben mal angefangen. Korrigieren und verbessern können wir in der nächsten Iterationsschleife immer noch. Dies ist halt das prinzipiell nicht unvernünftige Credo jedes agilen Arbeitens. Es trat an die Stelle eines überkommenen „planwirtschaftlichen” Projektmanagement-Stils „deutscher Prägung”. Dieses Projektmanagement plante sich zu Tode, brauchte also ewig und konnte auch nicht flexibel auf neue Rahmenbedingungen reagieren und war damit für die Praxisbedarfe von Start-ups schlicht viel zu praxisfern. Doch der Nachteil des agilen Arbeitens ist eben auch nicht von der Hand zu weisen.

Der Highway ins Mittelmaß

Die Methode erst mal anfangen und dann bedarfsgerecht in den nächsten Runden optimieren hat nämlich ihre Tücken. Verbessern können wir dann nämlich sehr oft nur etwas, das schlecht oder nur mittelmäßig begonnen wurde. Es liegt in der Natur eines jeden Proiekts mit knappen Budgets, egal ob es Kanban-, Skrum- oder sonstigen Ablaufmustern folgt, dass wir einen kompletter Neuanfang nach schlechtem Start nur dann in Betracht ziehen, wenn wir in eine Sackgasse gelaufen sind und dies auch erkennen. Das ist selten der Fall. Meistens wuseln wir mit mäßigen Ergebnissen weiter und verbessern oder verschlimmbessern nur das an sich Suboptimale, während wir es gleichzeitig durch Code oder Text on top so festzementieren, dass in der Folgeschleife ein Neustart noch unwahrscheinlicher wird. Timebox ist leider auch der Highway ins Mittelmaß.

Das zeigt auch die widersinnige Unterscheidung zwischen hartem und weichen Timeboxing überdeutlich.

Qualität und Effizienz folgen unterschiedlichen Regeln

Denn mit dieser Unterscheidung wird das Prinzip ad absurdum geführt. Wir wissen immer erst hinterher, nach getaner Arbeit, ob wir oder andere mit einer Leistung zufrieden sind. Wird die verfügbar gemachte Zeit hart definiert und ist ein wie auch immer geartetes Arbeitsergebnis am Ende eines solchen Zeitfensters zwingend als Ergebnis zu werten, dann spielt die Qualität für die Wertung als Ergebnis keine Rolle. Wenn im Zähler der Formel Leistung ist Arbeit dividiert durch Zeit eine Null steht, dann darf sie, Timebox zufolge, nicht als Null gewertet werden. Ist das Prinzip dagegen weich und läuft die Uhr nur als Regulativ mit, dann spielt sie keine Rolle für die Wertung des Arbeitsergebnisses als Ergebnis. Im Nenner der Formel steht dann immer eine 1.

In beiden Fällen kann der Faktor Zeit kein Maßstab für die Qualität der Leistung sein – im Fall der harten Definition gar nicht, denn die Timebox wurde ja schon vorab abgemessen und im Falle der weichen Definition nur unter der Voraaussetzung, dass es Kriterien für die Güte der Arbeit gibt. Wir können nicht simultan, also unter Zugrundelegung ein und desselben Prinzips, sowohl unsere Effektivität als auch unsere Effizienz optimieren.

Damit ist nicht gesagt, wir bräuchten kein gutes Zeitmanagement. Doch ein gutes Zeitmanagement ist nur eine notwendige Bedingung, um viel leisten zu können. Es ist nicht ein Qualitätsmerkmal oder Qualitäts-Indikator der geleisteten Arbeit selbst. Und auch wenn das natürlich so kein vernünftiger Mensch so behaupten würde, läuft die Praxis der Timebox leider sehr oft genau darauf hinaus.

Timebox in der Startup – Praxis

Beispiel: Ich erinnere einen timegeboxten Workshop mit einer meiner Beteiligungen zum Thema Vertriebsstrategie: Wie können wir mit sehr begrenzten Ressourcen einen noch gar nicht existenten Markt (no product market fit) für unser Produkt öffnen, also Bedarf, neudeutsch “Need”, schaffen, der erwartbar kommen wird aber dummerweise heute noch nicht da ist?

Wir gelangten sehr schnell, nämlich innerhalb der Timebox von 20 Minuten, zu genau einer Lösung, nämlich die Suche nach einem potenten strategischen Partner mit breiter Oberfläche zu unserem Zielmarkt, der diesen Need heute schon haben müsste und einen signifikanten Kosten-Vorteil daraus ziehen würde, mit unserem Tool zu arbeiten.

In der Folgerunde dieses Workshops, nach diesem Brainstorming, committeten wir uns darauf, diesen Weg zu explorieren. Stillschweigend hatten wir dabei aber die Rechnung ohne den Wirt, hier den von uns identifizierten strategischen Partner gemacht. Wir hatten angenommen, sein Luxus-Problem, nämlich aus Kapazitätsgründen eine durch die EU-Gesetzgebung vorgegebene Drucksituation seiner Klienten nicht in dem wünschenswerten Umfang bedienen zu können, müsste unserem Produkt in die Hände spielen. Dieser Annahme zugerunde lag allerdings nur (m)eine sehr oberflächliche, ebenfalls timegeboxte Recherche des eigentlichen Problems der Klienten unseres gesuchten Partners.

Im Ergebnis haben wir dann gut 14 Tage darauf verschwendet, die Bedarfe unseres Wunschpartners, der aufgrund seines Kapazitätsproblems kaum Zeit für uns erübrigen konnte, abzuklopfen, weshalb wir dann noch einmal weitere 14 Tage damit zubringen mussten, die eigenbtlichen Bedarfe der Klienten unseres Wunschpartners kennenzulernen.

Mit einem Wort: Die Folge der Tiembox führte uns dahin, nicht etwa den zweiten, sondern gleich den dritten Schritt vor dem ersten zu machen und aus Timeboxgründen einvernehmlich Zeit zu verschwenden. Eine aufwändigere, weniger zeitbegrenzte Recherche hätte diesen Fehler gar nicht erst entstehen lassen und uns am Ende eine Menge Zeit gespart.. Damit hatten wir dann außerdem zuugleich eine vertriebliche Todsünde begangen, nämlich die Bedarfe unserer potenziellen Partner und Kunden nicht etwa abzufragen, sondern qua akademisch eeingebildeter Pseudoklugheit einfach als vernünftig anzunehmen: „Die müssen doch ein Interesse daran haben…”

Wir nehmen uns Automaten zum Vorbild

Ist eigentlich alles trivial. Warum schreibe ich das dann überhaupt? Weil es in meinen Augen ein Signum unserer Zeit ist, dass Menschen, Teams, Unternehmen, Gesellschaften möglichst effizient möglichst viel schaffen wollen. Und weil uns die Maßstäbe abhanden kommen oder schon gekommen sind, um beurteilen zu können, ob die Einzelbestandteile dieses Vielen jeweils hinreichend oder überhaupt gut sind. Wir bewundern die Fähigkeit künstlicher Intelligenzen, große Datenmengen im Handumdrehen bewältigen zu können genauso wie wir über die Rechenleistung von Quantencomputern staunen. Dies sind für uns die Maßstäbe, nach denen wir auch unserer eigenen Leistungsfähigkeit beurteilen. Unerreichbare Maßstäbe, aber Maßstäbe. Nicht umsonst fürchten viele, KI könne intelligenter werden als wir selbst oder sei das bereits (Vgl. dazu meinen letzten Blog Post). Demgegenüber sind wir nicht einmal ansatzweise in der Lage zu begründen, warum wir eine menschliche Leistung jenseits eines ‘möglichst viel in wenig Zeit’ für anerkennungswürdig halten. Wir verharren z.B. im Diffusen, wenn wir über die Kriterien von „Originalität“ und „Kreativität“ sprechen und wir landen dann regelmäßig bei Handbüchern, Algorithmen und Prozessen, die uns erklären, jeder Mensch und jede Organisation könne kreativ und originell gemacht werden, was schon ein Widerspruch in sich ist. Wir nehmen uns Automaten zum Vorbild und streben unablässig in eine binäre Richtung, in der uns sogar die fingierte Dreidimensionalität der virtuellen Realität mit ihren Avataren und rekonstruierten Sauriern staunenswerter erscheint als die physische Realität, die sie nachahmen.

Ein anderes ebenso krasses Beispiel für dieses Phänomen ist der Zwang, Texte in digitalen Publikationen wie diesem Blog Post so zu SEO-streamlinen, dass sie für Bots und Algorithmen leicht lesbar bzw. sichtbar werden. Wir nivellieren uns auf 0 und 1, damit wir von Automaten (besser) zur Kenntnis genommen werden, die dann die Aufmerksamkeit anderer, menschlicher Automaten organisieren helfen. Faktisch schreiben wir also nicht mehr für Menschen, sondern für Maschinen, wenn wir in dieser Welt danach streben, überhaupt “konkurrenzfähig” erkannt zu werden.

Wie arm ist das denn? Es liegt auf der Hand, dass Marketing-Abteilungen unter diesen Voraussetzungen ernsthaft darüber nachdenken, ihre Posts in den sozialen Medien künftig komplett von openAI & Co. schreiben zu lassen. Wenn uns die Qualität von Content egal ist, dann wird Qualität zu einem Synonym für Quantität, für die Menge mehr oder weniger automatisiert erfolgender likes und Kommentare. Und da schließt sich der Kreis. Es zählt dann nur noch viel (von irgendetwas) in wenig Zeit und/oder mit wenig Geld zu produzieren.