Die Grenzen der Plattform (Teil 1 /4)

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Die Grenzen der Plattform
Digitale Plattformen sind unvermeidlich, doch nicht nur ein Segen

Im Frühjahr des Jahres 2003, also vor ziemlich genau 17 Jahren, schrieb ich in einer Beitragsserie für die Immobilienzeitung (€) über den Modell-Charakter der „Plattform-Strategie“ (€). Gemeint war damals die u.a. von Toyota übernommene Volkswagen-Strategie zur Senkung der Herstellungskosten bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung oder sogar Steigerung der Modellvielfalt des Konzerns. VW hatte in den Jahren zuvor die Zahl automobiler Fahrgestell-Plattformen deutlich reduziert und gleichzeitig die Möglichkeiten für unterschiedliche marken- und modellspezifische Komponenten, an diesen „Plattformen“ andocken zu können, drastisch erhöht. So konnte eine über das Web schon damals zusehends besser informierte, die Hersteller mit höchst individuellen Wünschen konfrontierende anspruchsvolle Kundschaft mit einer breiten und variantenreichen Modellvielfalt beglückt werden, ohne dass dies für den Hersteller und seine Kunden unbezahlbar teuer wurde. Wenn man möchte, war dies die erfolgreiche beinahe-Quadratur des Kreises: Ein Höchstmaß an Individualität gepaart mit einem Höchstmaß an Standardisierung: Mass customization par excellence – ganz ohne das Zutun des Web.

Branchenübergreifender Modell-Charakter

Modellhaft und exemplarisch war Piechs Plattform-Strategie, wie ich damals fand, auch für andere Branchen und Industrien – so auch für die Immobilienwirtschaft. Büroimmobilien-Entwickler könnten, schrieb ich, standortübergreifend hochstandardisierte, quasi homogene Rohbauten konzipieren, denen man dann anschließend investoren- und mieterindividuell, also just in time zum Zeitpunkt des Verkaufs an einen Investor und später zusätzlich zum Zeitpunkt der Vermietung passgenau added values verpassen könne. So müsse man sich als Entwickler im Vorfeld eines Investorenauftrages nicht zur Unzeit auf eine allzu spezifische Form des Projekts festlegen und könne später, nachdem die Immobilie dann als Auftragsentwicklung für einen Investor fertig gestellt wurde, mit flexiblen Größen- und Ausstattungsvarianten der Büros an die Mieter herantreten.

Dem Mieter könne so ein bunter Fächer unterschiedlicher Leistungen angeboten werden, die dieser per Klick, ohne für die nicht gewünschten Leistungen zahlen zu müssen, individuell auswählen könne. Tatsächlich wurden solche Büroimmobilien dann damals auch wirtschaftlich erfolgreich realisiert: Für Bilfinger Berger beispielsweise die Büroimmobilie Ellipson in Essen oder der Maxtorhof in Nürnberg. Dieses Plattformkonzept ging so weit, dass sogar Bestandsimmobilien mit einer neuen intelligenten Infrastruktur-„Chassis“ ausgestattet wurden. Einer sehr heterogenen Nutzerschaft konnte so flexibel fast alles, was nachgefragt wurde, wirtschaftlich tragfähig möglich gemacht und die Flächenauslastung signifikant gesteigert werden.

Der aufwändig und eigentlich viel zu teuer sanierte Specks Hof in Leipzig z.B. wurde so zusätzlich einer flexiblen Büronutzung zugeführt, um die bis dahin geringe Rentabilität des gesamten Objekts im Wege einer gewerblichen, Büro- und EZH-Misch-Nutzung zu heben. Anders als bei VW wurden bei diesem Plattform-Modell bereits Intra- und Internet aktiv als Instrument für die Kunden, hier also die Mieter, eingesetzt. Mieter konnten von ihrem Arbeitsplatz aus per Telefon oder Betreiber-Intranet Dienste zubuchen oder abwählen. Die Infrastruktur basierte auf einem Glasfaser-„Backbone“. Sie ermöglichte den Nutzern damals ein „schnelles“ Internet und spannende Dienste wie das preiswerte gemeinsame Power-Shopping der Mieter von Energie- und Telekommunikations-Leistungen oder, beim Ellipson, das vollautomatische telefonische Herauslotsen des eigenen Fahrzeugs aus der angeschlossenen Hochgarage.

Trotz der plattformähnlichen Nutzung des Intranets war dieses Konzept von dem, was heute unter Plattform-Ökonomie verstanden wird, allerdings noch weit entfernt.

Maximales Customizimg zu minimalen Kosten ist wirtschaftlich unmöglich

Die oben angesprochene ‘Quadratur des Kreises’, die von den genannten Plattform-Vorläufern erfolgreich exerziert wurde, ist in Reinform natürlich nicht möglich. Maxima und Minima können nur auf der Grundlage eines gegebenen oder gesetzten Inputs erreicht werden. Minimale Kosten bei maximaler Leistung, maximale Standardisierung bei maximaler kundengerechter Produktvielfalt sind betriebswirtschaftlich unmöglich.

Auch eine Plattformstrategie kann daher nur funktionieren, wenn entweder der Variantenreichtum oder die zulässigen Maximalkosten vorab definiert werden: Maximale Individualisierung ist auf der Grundlage eines gegebenen Kostenrahmens möglich. Kostenminimierung ist auf der Grundlage einer gegebenen Variantenvielfalt möglich. Beides kann nicht „gleichzeitig“ gesteigert werden.

Ein volkswirtschaftlicher Platform-Benefit ist nicht aus einem partikularen betriebswirtschaftlichen ableitbar

Daher ist der Glaube, der durchschlagende Erfolg der Plattformstrategie in der Automobilwirtschaft lasse sich von der betriebswirtschaftlichen Mikroebene volkswirtschaftlich hochskalieren ein Irrglaube. Was gut für den VW- oder für den Daimler-Konzern ist, das muss z.B. für die jeweiligen Zulieferer von Tier 1 bis Tier 3 keineswegs gut sein. Für sie gilt: Sie müssen sich dem Diktat des Plattformbetreibers, der die Ziele definiert, beugen oder darauf verzichten Zulieferer zu sein. Und wenn ich als Kunde einer Plattform sehr spezielle Wünsche an mein Traumauto stelle, dann mögen diese unter Umständen nicht mehr wirtschaftlich leistbar sein und werden aus dem automobilen Konfigurator ausgeklammert. So ist es auch bei unserem Immobilienbeispiel.

Der Betreiber einer Büroimmobilie kann nicht jeden Mieterwunsch nach Zusatzleistungen oder nach einer den Mietzins senkenden Ausklammerung von Standardleistungen befriedigen. Er strebt eine optimale Auslastung seiner Fläche an.
Bei öffentlichen Diensten könnte man die Definition des volkswirtschaftlich Wünschbaren, also des Nutzer und Betreiber gleichermaßen nützlichen Leistungsportfolios natürlich den politischen Entscheidungsträgern überlassen. Die würden sich jedoch rasch in unlösbare Zielkonflikte verstricken, denn das betriebswirtschaftlich Sinnvolle ist nicht zwingend das politisch Sinnvolle bzw. Gewollte. Die Kunden der Bahn erleben das in Deutschland Tag für Tag auch jenseits der Plattform-Thematik.

Plattform-Strategien funktionieren gut, solange die Plattformen nicht selbst wirtschaftliche Ziele verfolgen

Der wirtschaftliche Nutzen des kostengünstigen Massen-Customizings im Wege von Plattformen kann solange wirtschaftlich nachhaltig gut funktionieren, wie die Nutzen der kundenindividuellen Bedarfsbefriedigung, also das Customizing, und der Grad der Standardisierung, von den Plattformbetreibern selbst definiert werden. Für Volkswagen war es beispielsweise vernünftig, auf der Grundlage der berühmten PQ34-Plattform in den Jahren 1997 bis 2003 so unterschiedlich aussehende Modelle und Marken wie den VW Bora, den VW New Beetle,  den Škoda Octavia I, den Seat Leon I, den Seat Toledo II, den Audi A3 8L und den Audi TT 8N zu verschrauben. Der entsprechende Kundenbedarf in unterschiedlichen Vertriebsregionen wurde im Wege des Marketings geweckt und dann im Wege der Entwicklungskosten einsparenden, Stückkosten minimierenden und Bandlaufzeiten optimal ausnutzenden Plattformmontage kostenoptimiert gedeckt.

Diese Strategie wäre aber rasch an ihre Grenzen gestoßen, wenn die Montage nicht unter dem Dach eines markenübergreifenden Konzerns hätte stattfinden sollen, sondern im Auftrag wirtschaftlich autonomer Markenhersteller, also von VW, Audi, Seat und Škoda. Es hätte sich dann nämlich gezeigt, dass die Marken jeweils Ansprüche an die Modelle und ihren Variantenreichtum gestellt hätten, die mit den Ansprüchen der jeweils anderen Marken in Konflikt liegen. Die Plattform PQ34 hätte es dann mit Sicherheit nicht gegeben. Ihrer Existenz lag ein Kompromiss der Konzernmarken oder eine Entscheidung des Konzerns zugrunde, wieviel Vielfalt und wieviel Standard gewünscht und im Wege des Marketingplans nachfrageseitig getriggert werden soll.

Digitale Plattformen

Aus diesem Grund bin ich skeptisch, wenn heute im digitalen Kontext von allen Seiten das hohe Lied auf die Plattform angestimmt wird. Gemeint sind dann nämlich fast immer die Plattformdienstleistungen eben solcher neutraler Drittanbieter, die ihre Dienste den Usern kommerziell gegen Umsatzbeteiligung und Nutzungsgebühren anbieten. Hier toben sich Startups aus, denn für sie macht das Geschäftsmodell auf jeden Fall Sinn.

Neutrale Plattformen verfolgen vordergründig Ziele. die mit den vorgenannten quasi-mechanischen der Automobilwirtschaft vergleichbar sind: Einkaufsplattformen organisieren Powershopping, Kollaborationsplattformen ermöglichen interdisziplinäres Zusammenarbeiten, Auktionsplattformen suchen für Käufer das beste Schnäppchen, elektronische Marktplätze verbinden Käufer und Verkäufer und minimieren Transaktionskosten, Branchenplattformen sind Mischformen, die ihren Nutzern von allem etwas anbieten. Schöne neue Plattform-Welt. Immer geht es darum, möglichst vielen möglichst viel von etwas möglich zu machen. Doch wie schön ist das für die Nutzer wirklich?

Der Grad der Standardisierung eines Leistungsportfolios ist bei neutrale Plattformen keine Resultante von Kosten-Nutzen-Kalkülen der Zielbranchen, sondern das Ergebnis ihrer eigenen wirtschaftlichen Ziele als Plattformbetreiber. Beide Interessenslagen können deckungsgleich sein, sie müssen es aber nicht.

Zentrifugale und -petale Kräfte auf neutralen Plattformen

Gerade für Sourcing-Plattformen gilt wie für das Powershopping: Je höher die Zahl der gelisteten Einkäufer auf der Suche nach einem Produkt x, desto niedriger ist tendenziell der wahrscheinliche Einkaufspreis für dieses Produkt x. Eine hohe an die Plattform gebundene Nachfrage führt also gerade nicht zu hohen Preisen, sondern, quasi als Mengenrabatt, zu relativ niedrigen. Umgekehrt gilt das Gleiche: Ein hohes identisches Angebot auf der Plattform über unterschiedliche das Gleiche bietende Bieter führt, solange es sich um keine Auktionsplattform handelt, gerade nicht zu einem zwingend niedrigen Verkaufspreis. Neutrale digitale Plattformen können also durchaus zum Vorteil ihrer Nutzer wirken und z.B. den klassischen Preissignalen von Angebot und Nachfrage moderierend entgegen wirken. Aber sie müssen es eben nicht.

Die „zentripetale“ Kraft des neutralen Plattformbetreibers, der möchte, dass die peripheren Interessen der Plattformnutzer sich in Richtung auf sein zentrales wirtschaftliches Anliegen, Provisionen und Nutzungsgebühren einzuheimsen, zubewegen, stehen mindestens latent in Konflikt zu den zentrifugalen Kräften der Nutzer von Tier 1 bis Tier 3 an der Peripherie, die über die Plattform nur ihre unmittelbaren eigenen Interessen befriedigen wollen.

Die Nutzungskosten der Plattformen sind unerheblich

In Frage stehen hier nicht die von den Usern für die Plattformnutzung aufzubringenden Kosten. Diese sind ebenso marginal wie die Kosten, die ein Unternehmen für seinen eigenen Plattformbetrieb auf seine Kostenstellen umlegen muss. In Frage steht das Organisationsprinzip einer neutralen Plattform, die nicht in vollem Umfang den Nutzerinteressen genügen kann, sondern primär den eigenen wirtschaftlichen Interessen der Plattform genügen muss. Für die Nutzer sind mit der Unterordnung ihrer strategischen Interessen unter die taktischen Vorteile der Plattform-Nutzung im Extremfall existenzbedrohende Risiken verbunden. Exemplarisch nenne ich an dieser Stelle folgende vier Risiken: 1. Qualitätseinbußen, 2. Abhängigkeiten, 3. Preigabe einer autonomen Produkt- und Preispolitik, 4. mögliche Fehlinvestitionen.

Diese vier Risiken werde ich in der kommenden Ausgabe adressieren und dabei werde ich versuchen deutlich zu machen, warum ganz besonders für mittelständische Unternehmen beim Plattform-Gebrauch nicht nur Chancen, sondern auch Gefahren winken. Dabei möchte ich nicht dem Verzicht auf die Nutzung der Plattformen das Wort reden. Das wäre dumm. Ich möchte nur darauf drängen, bei aller berechtigten Zuversicht angesichts der vielfältigen Nutzen des Plattformgebrauchs, die fraglos ebenfalls vorhandenen großen Risiken nicht zu vergessen und ihnen rechtzeitig vorzubeugen.