Aus Fehlern lernen? Über Theorie und Praxis im Startup-Ökosystem

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Scheme showinga mistaken relationship between theory , data and practice
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Im Ökosystem der Unternehmerinnen und Unternehmer und ganz besonders im System der Startups, VCs, Angels, Family Offices und sonstigen Gründungsfinanzierer findet wenig so weithin geteilte Geringschätzung wie die „graue Theorie“. Wer immer sich als Unternehmerin oder Unternehmer begreift, baut auf Praxis und praktische Erfahrung und verschmäht Theorie.

Da ist es nur dumm, dass ausgerechnet Gründerinnen und Gründer wenig Erfahrung haben, da sie jung und wenig berufs- und lebenserfahren sind. Noch dümmer ist, dass sie meist in neuen Märkten agieren, für die ebenfalls kaum Erfahrungen vorliegen. Am allerdümmsten aber ist, dass auch reifere Semester, wir Angels und Investoren zum Beispiel, nicht besser dastehen: Wir mögen Erfahrung haben, doch Erfahrung mit was bitte? Welche Vertriebs- und Marketingmethode aus den Nullerjahren taugt heute noch? Welche Kennzahlen sind heute noch relevant, um die Performance eines Startups zu messen? Mit welcher Software oder Plattform aus jener Zeit kann heute noch erfolgreich gearbeitet werden? Und wie, bitte, soll ich als Gründer oder Investor aus den Fehlern anderer lernen, wenn die Umstände solcher Fehler sich laufend ändern und wenn das, was gestern falsch war, heute richtig oder das, was heute richtig, morgen schon wieder falsch sein kann?

Alle Fehler sind theoriegeleitet. Da hilft auch keine KI

Gibt es einen Superlativ zu: „am allerdümmsten“? Am allerallerdümmsten nämlich ist, dass auch künstliche Intelligenz bei unserem Problem keine Abhilfe bereit hält: KI kann aus Fehlern lernen, doch wie wertvoll ist das gelernte Datum, wenn der frühere Fehler eben unter gewandelten Rahmenbedingungen gar kein Fehler mehr ist, wenn beispielsweise ein Markt, der in den letzten zwanzig Jahren nicht da war, auf einmal da ist?

Der Raum möglicher Fehler und falscher Entscheidungen ist unendlich groß – für menschliche und künstliche Intelligenzen alike. Etwas nicht tun, weil es gestern falsch war, kann heute erst recht falsch sein.

Aus dem Vorstehenden folgt, dass wir alle tatsächlich immer theoretisch geführt sind, wenn wir Erfahrungen machen, dass es bei unseren Urteilen also nur so vor theoretischen Unterstellungen und (Vor)-Urteilen wimmelt, wenn wir sagen, wir hätten dies und das aus unseren Fehlern oder denen anderer gelernt.

Die Unterscheidung zwischen Theorie und Praxis ist offensichtlich obsolet und taugt nirgends und schon gar nicht in Gründungskontexten als Kriterium für vernünftiges Handeln. Fehler, die sowohl Gründer als auch Investoren machten und – leider einschließlich mir selbst – immer wieder machen, zeigen dies auch praktisch überdeutlich.

Exkurs: Theorie, Praxis, MVPs und Mut zum Risiko

Alle praktischen Erfahrungen sind theoriegeleitet. Und alle Daten sind es auch – einfach deshalb, weil sie als Datum gelernt wurden bzw. werden. Die Theorie ist gewissermaßen das Geländer, um eine Erfahrung überhaupt begrifflich als Stufe auf einem langen oder kurzen Weg zu einer „Lösung“ betreten zu können. Ohne Theorie geht es nicht. Nie! Und solange diese Theorie nicht immanent widersprüchlich oder bedeutungslos ist, kann sie in Sachen Praxisnähe oder Praktikabilität so ziemlich alles für sich in Anspruch nehmen. Denn Plausibilität beruht immer, ausschließlich, auf historischen Erfahrungen, auf Daten aus frührerer Zeit. Wie gut uns dieses Geländer geführt hat, das wissen wir grundsätzlich immer erst post-hoc, hinterher. So funktionieren auch naturwissenschaftliche Expetimente. Das Geländer kann heuristisch suggerieren, wo die nächste Stufe „vernünftigerweise“ sein müsste. Und sie kann ebenso gut in den Abgrund führen.

Sehr oft führt gerade die vernünftige, also mindestens konsistente und nicht bedeutungslose Theorie hochschulnaher Gründungen in den Abgrund. Und sehr oft liegt das daran, dass die Gründer allzu gut mit ihrer Theorie vertraut sind und darüber die schnöde weniger vernunftgeleitete Praxis aus dem Blick verlieren. Denn in dieser schnöden Wirklichkeit bewegen sich überwiegend Menschen, die es in Sachen Konsistenz ihrer Entscheidungen nicht allzu genau nehmen.

Bei der in meinem letzten Post skizzierten eigenen Fehlinvestition einiger VCs und Angels in ein KI-StartUp für den Shopfloor der produzierenden Industrie habe ich als Angel z.B. genau die Fehler gemacht, vor denen ich meine Gründerinnen und Gründer jahrein, jahraus bis heute warne: Auf die Vernunft der Akteure in den Zielmärkten blind zu zählen, statt sie zu befragen.

Volkswirtschaftlich vernünftig ist nicht betriebswirtschaftlich vernünftig

Produkte und Technologien können in bereits vorhandenen, liquiden Märkten hinsichtlich der Abgabepreise, Produkt-Features, Leistungs-Bundles usf. empirisch auf Nachfrageintensität getestet werden. Mit dem Argument der volkswirtschaftlichen Vernunft geht das nicht. Wir hatten uns, wie bei meinem letzten Post im Einzelnen dargelegt, bei unserer Investitionsentscheidung von dem Glauben leiten lassen, der Markt für unser Startup werde kommen, weil es volkswirtschaftlich ‚vernünftig‘ ist/wäre, dass/wenn er kommen wird/würde.

Akteure in den Absatzmärkten folgen aber keinen volkswirtschaftlichen Erwägungen, sondern ihren eigenen unternehmensspezifischen. Für die meisten Industrieunternehmen ist KI tatsächlich ein großes Ding, in das sie rege investieren. Doch bis auf Weiteres investieren sie nur in Köpfe. Erst einmal wollen sie nur testen und probieren. Sie werden jedenfalls nicht in die Lösung eines Startups investieren und sie werden dafür auch keine Kosten produzieren oder Investitionen auslösen. Solange nicht belastbar dokumentiert werden kann, dass sich solche Investitionen und Kosten rechnen werden, und also klar ist, ob und in welchem Umfang wann monetär messbare Kosteneinsparungen oder Leistungstzuwächse erzielt werden können, sind sie zufrieden, ihre Innovationsabteilungen mit Ausprobieren zu beschäftigen. Und das ist ja auch genau das, was Startups selbst tun: Erst ein MVP, dann der PMF und erst danach der Rollout. Und das ist einerseits vernünftig, andererseits kostet es diese Unternehmen Zeit. Ein vermeintlich (?) riskanteres sofortiges Ausrollen könnte die Unternehmen (und die sie beliefernden Startups) schnell vom langsameren Wettbewerb distanzieren. Es ist dann natürlich eine Wette auf die Zukunft. Keine Theorie und keine KI kann vorhersagen, ob der Testbetrieb, der MVP-Weg der Startup-Kunden oder das mutige Nachvornepreschen der bessere Weg ist.

Probleme eines Unternehmens sind immer Entscheider-individuelle Probleme

Hinzu kommt, dass im vorliegenden Fall die Industrieentscheider, die jetzt in eine von dem Startup angebotene Lösung investieren sollen, die möglichen Benefits, die ihre Investitionsentscheidung auslösen mögen, selber gar nicht mehr auf ihrem heutigen Posten erleben werden. Ihre Situation ist vergleichbar mit der von Politikern, die auch keine Entscheidungen treffen, von denen erst ihre Amtsnachfolger vielleicht profitieren werden. Sie bürden sich heute keine Lasten, Investitionen und Kosten auf, die ihnen als Verursacher zugeschrieben werden, von denen erst ihre Nachfolger profitieren können!

KI-Lösungen für Unternehmen werden also sicherlich sehr oft betriebswirtschaftlich sehr vernünftig sein, also hinreichend groß, um die Kosten und Investitionen perspektivisch zu überkompensieren. Sie werden möglicherweise dennoch nicht gekauft, weil das, was gut für das Unternehmen ist, noch lange nicht gut für den- oder diejenigen sein muss, die das Buying Center in diesem Unternehmen bilden. So ist das leider. Jeder Verkäufer kennt das – im B2B genauso wie im B2C.

Mittelbare Nutznießer sind keine potenziellen Kunden

Uns Investoren werden von Gründerinnen und Gründern auch gerne Lösungen angeboten, die nur einer mittelbaren Zielgruppe zugutekommen, also nicht der, die diese Lösung kaufen soll, der “Endzielgruppe” Das kann erst recht nicht funktionieren, da ja dann nicht einmal das eigene Unternehmen profitiert. Bei Startups sehe ich diese beiden verwandten Fehler wirklich sehr oft – „Lösungen“, die einen volkswirtschaftlichen, ökologischen, generationalen, globalen Need, ein „Problem“  tangieren, das sicherlich existiert, nur eben ein öffentliches, volkswirtschaftliches, ökologisches, soziales, generationales und kein betriebswirtschaftliches, kein firmenspezifisches oder Entscheider-individuelles Problem ist. Ich könnte unzählige Decks nennen, die so vorgehen. So vorzugehen ist a priori unsinnig, weil eine Ziegruppe x (die zahlenden Kunden) für die Ziele einer Zieogruppe y (die Allgemeinheit) eingenommen werden soll, für die es vielleicht Wohlwollen, doch sicherlich keinen Need gibt.

Wir Investoren sind keinen Deut besser

Wenn wir Angels aber selbst in diese Falle tappen, die wir bei Gründerinnen und Gründern als typische Gründer-Fehler identifizieren, woran liegt es dann? Und noch ein mal: Wie sollen Gründer von uns lernen, wenn wir selbst nicht aus unseren Fehlern lernen? Denn gelernt hatten wir Hype-besoffenen Angels und VCs eben nicht, als wir uns alle sagten: „Dieser Markt wird kommen, weil er einfach kommen muss!“

Meine Antwort auf die zweite Frage: Sie sollten, wenn sie es könnten, nicht auf uns als Vorbilder schauen, sondern einfach die anthropologiosche Konstante verinnerlichen, dass die Schwarm-Intelligenz bei Prognosen bezogen auf künftige Ereignisse und Trends genauso oft daneben liegt wie bei allen anderen Menschen und künstlichen Intelligenzen. Ja, die zentrale Fähigkeit von KI, die unsere eigenen Fähigkeiten signifikant übersteigt, ist ihre Prognosefähigkeit. Doch Trends und Märkte zählen nicht dazu, weil deren Entwicklung von Entscheidungen abhängen, die unkalkulierbar menschlich oder, präziser, emotional und situativ getriggert sind.

Die erste Frage müssten wir Angels uns selbst beantworten, wenn wir es könnten. Wir können es analytisch, wie ich hier jetzt, machen dann aber meistens, weil wir Menschen sind und unter dem sozialen Druck unserer Peers, unserer Investoren-Gemeinde stehen und FOMO verspüren, wider diesen besseren Wissens, doch immer wieder und wahrscheinlich bis in alle Ewigkeit, die gleichen Fehler.

Im nächsten Post geht es um diesen zweiten Punkt, unseren Angel-Fehler nämlich, anderen, vermeintlichen Experten bei ihren Investments zu folgen, obwohl ihre Entscheidungen einem ganz anderen Risikokalkül unterliegen (VCs) oder einem betriebsblinden wishful thinking folgen: der Fachexpertise akademischer Spezialisten.

Das Takeawy für heute: Theorie mag grau sein, doch unsere Investitions-Entscheidungen sind immer maßgeblich theoretisch, man könnte auch sagen: durch unsere Vorurteile geprägt. Wir geben ihnen ein rationales Gewand, weil wir dann besser aussehen und vor uns selbst dastehen. Eitelkeit…