Vom Nutzen der Vorurteile (Teil 2/3): Credo quia absurdum est

jvhNew articles

Credo quia absurdum est
Die Märkte folgen wider besseres Wissen den Fehlprognosen der Analysten und geben ihnen so Recht

Fundamentalanalysten und Hellseher

Meinen letzten Post schloss ich mit der Aussage, unter Analysten habe sich, anders als bei Historikern, noch nicht die Einsicht durchgesetzt, man könne die Zukunft nicht aus der Vergangenheit und die Gegenwart nicht aus der Zukunft ableiten. Aktienanalysten der fundamentalen Sorte machen ja beides: Sie versuchen, erstens, in der Vergangenheit von Unternehmen und Märkten nach Gründen zu fischen, welches Potenzial ein Unternehmen oder ein Markt in Zukunft haben wird, und sie versuchen anschließend zweitens, nachdem sie sich auf der Grundlage ihrer Funde in der Vergangenheit ein Urteil über die Zukunft (des betreffenden Unternehmens) gebildet haben, aus dieser Zukunft einen auf das Bewertungsdatum abgezinsten Gegenwartswert zu ermitteln.

Der Betafaktor vergrößert oder verkleinert den Gegenwartswert in Abhängigkeit dazu, in welchem erwarteten Umfang die erwartete zukünftige Performance des Unternehmens um die erwartete zukünftige Performance des zukünftigen Marktes dieses Unternehmens oszilliert, eines Marktes, wohlgemerkt, von dem niemand weiß, wie er in Zukunft aussehen wird.  

Dabei empfinde ich es immer wieder als ausgesprochen lustig, wie die durch und durch subjektiven Erwartungen der Analysten in einen hart aussehenden Betafaktor münden und wie das Produkt der Ewartungen an das Unternehmen mit diesem Betafaktor zwar im Gewand eines exakten Werterahmens aus einer mathematischen Formel schlüpfen, tatsächlich aber nichts anderes sind als das Produkt subjektiver Erwartungen an Märkte mit subjektiven Erwartungen an Unternehmen.

Auf der anderen Seite: Was sollen Analysten denn sonst tun?

Credo quia absurdum est

Der praktische Nutzen, den Analystinnen und Analysten bereit stellen, ist mindestens so groß wie die Willkür ihrer Urteile. Ihre Analysen erweisen sich, im Detail, regelmäßig als falsch, also nicht einmal näherungsweise akkurat (wobei „näherungsweise“ zugegebenermaßen auch ein ziemlich unscharfer Begriff ist) aber sie sind praktisch, weil sich die gesamte Börsen-Welt auf sie einstellt.

Vor allem aber: Anders als bei Historikern, deren Urteile über die Zukunft eigentlich immer allenfalls belletristisch interessant sind und im Alltag der meisten Menschen ohne Wirkung bleiben, sind die Prognosen der Analysten in einem doppelten Sinne wirkungsvoll: Man folgt ihnen, mangels besserer alternativer Prognoseverfahren, erstens tatsächlich UND sie produzieren zweitens, im Verbund mit den Konkurrenzanalysen anderer Analysten, tatsächlich eine gerichtete Bewegung, die man sich laienhaft als die Resultante eines „Kräfteparallelogramms“ aller unterschiedlichen Analystenprognosen veranschaulichen kann. Es entstehen die berühmten self-fulfilling prophecies. Analysten bekommen, nicht jeweils individuell aber in Summe, vom Markt „Recht“ weil der Markt ihnen halt folgt. Würde Historikern so gefolgt werden wie Analysten gefolgt wird, dann wären ihre Prognosen, in Summe, ähnlich wirkungsmächtig wie die der Analysten.

Die Ironie, mit der wir es hier zu tun haben, ist also die: Historiker und Analysten fischen gleichermaßen im Trüben. Historikern folgt man nicht, weil eine jede und ein jeder weiß, dass die Zukunft von ein paar mehr Faktoren geprägt wird als von dem, was Historiker mehr oder weniger willkürlich über die Vergangenheit herausgefunden haben. Weil man ihnen nicht folgt, sind ihre Urteile über die Vergangenheit für das, was dann tatsächlich morgen und übermorgen geschehen wird,weitestgehend unerheblich. Analysten folgt man dagegen (jedenfalls an den Börsen), obwohl man eigentlich weiß, dass ihre Zukunftsprognosen extrem unzuverlässig sind.

Man folgt ihnen deshalb, weil praktisch niemand (mit Einfluss) über hellseherische Fähigkeiten verfügt, ein Analyst aber mutmaßlich über ein bestimmtes Unternehmen und seine Märkte etwas besser Bescheid weiß, als der von keinerlei solchem Wissen getrübte unschuldige Börsianer. Weil die Märkte aber den Fehlprognosen folgen, haben die Prognosen in Summe oft genug recht. Und dies, obwohl sie auf durch und durch unzulässigen Schlussfolgerungen basieren. Man kann soweit gehen zu sagen: Es spielt kaum eine Rolle, was da prognostiziert wird, solange den Prognosen, in Summe, gefolgt wird.

Ein bisschen Wissen führt zwar, jedenfalls den Ergebnissen der Forschungen von  Daniel Kahneman und Amos Tversky zufolge, statistisch betrachtet zu größeren und häufigeren Fehlurteilen als gar kein Wissen. Doch für unseren Kontext spielt das keine Rolle. Denn solange der Markt oder die Märkte den Fehlurteilen folgen, gibt es eine Wahrscheinlichkeit > 0,5, dass ihre Voraussagen innerhalb eines vorher definierten Toleranzrahmens später trotzdem eintreten werden. Sicherheitshalber wird dieser Rahmen von klugen Analysten so weit gefasst, dass Irrtum nahezu ausgeschlossen ist 😉.

Natürlich werden alle diese Prognosen selbst innerhalb großzügig gesetzter Toleranzrahmen spätestens dann obsolet, wenn ein “Schwarzer Schwan” über den Teich segelt. Aber um solche Ausnahmen sollte es an dieser Stelle nicht gehen.