Das „Wahre“ und das „Schöne“

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Sabine Hossenfelder und das CERN

Die deutsche Teilchenphysikerin, ehemalige CERN-Mitarbeiterin und aktive Bloggerin Sabine Hossenfelder (@skdh) veröffentlichte im Juni 2018, zunächst auf Englisch (Lost in Math, How Beauty Leads Physics Astray), ein in der Fach- und fachorientierten Publikumspresse viel beachtetes Buch: Das hässliche Universum, Warum unsere Suche nach Schönheit die Physik in die Sackgasse führt.

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Die “Schönheit” der Mathematik mag durchaus als heuristisches Moment der guten Theoriefindung dienen

Schönheit als heuristisches Kriterium

Hossenfelders Kernthese besagt, in der Theorieentwicklung der Physik solle es grundsätzlich nie und schon gar nicht in erster Linie darum gehen, ein unter Theoriegesichtspunkten „schönes“ (also vor allem mathematisch schlankes) Thesengebäude zu entwickeln. Vielmehr sei es im Hinblick auf neue zu beweisende Theoreme etwa zu den Teilchenstrukturen Aufgabe der Physik, beweisbare, also falsifizierbare Hypothesen aufzustellen, funktionierende Beweisverfahren zu entwickeln und anhand dieser Beweise die zuvor aufgestellten Hypothesen anschließend entweder, soweit sie „bewiesen“ werden konnten, in den bereits bestehenden Theoriekanon einzubauen oder aber, insoweit dies auf der Grundlage der Bestandstheorie nicht gelingen sollte, zu verwerfen. Soweit beides nicht gehe, müsse drittens,  als letzte denkbare Option, das bestehende Theoriegebäude aufgrund der neuen (mit dem bestehenden Theoriegebäude inkommensurablen) Beweislage eingerissen werden und durch ein neues, empirisch zu testendes und daher auch testbares ersetzt werden. Soweit so gut.

Hossenfelder ist sich durchaus darüber im Klaren, dass ihr Wunschvorgehen schwierig ist, insbesondere dann, wenn es um die letztgenannte Variante geht, also darum, eine neue Theorie an die Stelle der alten zu stellen, denn nicht nur müssen die neuen Phänomene von der neuen Theorie gedeckt werden, sondern es müssen ja auch alle bekannten Bestandsphänomene, die in der bis dato gültigen Theorie gut aufgehoben waren, mit der neuen vollkommen kompatibel sein. Wofür sie allerdings eine Antwort schuldig bleibt ist die Frage, wie lange denn an einer bis jetzt nicht falsifizierten Hypothese festgehalten werden darf und was dafür spricht, eine Hypothese nur deswegen über Bord zu werfen, weil ihre Widerlegung teuer und schwierig ist.

Das CERN – ideologisch verranntes Narrenhaus?

Besonders kritisch reflektiert Hossenfelder das Genfer Kernforschungszentrum CERN, sowie die dort entwickelten Teilchenbeschleuniger. Ihr zentraler Vorwurf an den LHC:  Dieser Beschleuniger und sein Nachfolger würden dazu eingesetzt, eine bislang ausschließlich durch „schöne“ Theorie-Fata Morganen hypostasierte Teilchenexistenz, für die es absolut keinerlei empirische Existenzindizien gebe, sondern eben nur eine, wenn auch „schöne“, mathematische Voreingenommenheit, nach Jahrzehnten erfolgloser Suche doch noch zu beweisen.

Anstatt auf Empirie zu bauen, sagt Hossenfelder, befasse sich die CERN-Physik unter dem Einsatz ungeheurer Mengen an Steuermittel damit, darauf zu hoffen, dass eine schöne Theorie vielleicht eines schönen Tages doch noch bewiesen werden könne. Unverantwortlich sei das, da über die Finanzierung von Lehrstühlen, Forschungseinrichtungen und eben Teilchenautobahnen die gesamte physikalische Wissenschaft einer wissenschaftlich nicht zu haltenden Schönheitsideologie geopfert werde. Auf der Strecke bliebe der gesamte Rest der theoretischen und auch experimentellen Physik, für die nun keine ausreichenden Mittel mehr zur Verfügung stünden. Insbesondere hoffnungsvolle Karrieren (wie die eigene?) landeten so auf dem Abstellgleis.

Wenn Hossenfelder so empirisch orientiert ist, wie sie es sich zugutehält, warum sagt sie dann zum Beispiel dies: „In den ersten Jahren seiner Existenz, damals In den 60iger Jahren, produzierte das LHC pflichtgemäß ein Teilchen, das Higgs-Boson, dessen Existenz in den 60-er Jahren vorausgesagt wurde. […] Meine Freunde und ich waren voller Hoffnung, dass dieses Milliarden Dollar schwere Projekt mehr leisten würde, als lediglich zu bestätigen, was niemand je bezweifelte.“ (Meine Übersetzung aus dem englischen Original). Hier mokiert sie, die der Falsifizierbarkeit frönende Popperianerin, DASS der LHC nach Jahrzehnten, die Existenz eines „Teilchens“ bestätigt hatte, dass sie und allen anderen sowieso (rein theoretisch!! sic!!) als existent vermutet hatten.

Der Wissenschaftsbetrieb war und ist seit jeher politisch

Ich nehme nicht von Ferne für mich in Anspruch, die theoretische Physik so tief durchdrungen zu haben wie Hossenfelder dies ohne Frage getan hat. Allerdings ist dies auch nicht notwendig.  Denn ihre Ausführungen zeugen von einem kuriosen Wissenschaftsverständnis, das mit der Realität und Geschichte des Wissenschaftsbetriebs herzlich wenig zu tun hat. Denn noch nie war „die Wissenschaft“ bei der Wahl ihrer Methoden in irgendeiner auch nur annähernd objektiv zu nennenden Weise unvoreingenommen oder bei der Wahl ihrer Theoriepräferenzen nur hehren wissenschaftlichen Zielen verpflichtet. Es ist überhaupt nicht möglich, die Legitimität wissenschaftlicher Methoden selbst wissenschaftlich zu validieren. Es gibt keinen „wissenschaftlichen“ Weg darüber zu entscheiden, welche Methoden des wissenschaftlichen Suchens nach „Wahrheit“, also welche Heuristiken, einer Wissenschaft angemessen oder zuträglich sind und welche Wege und Präferenzen dies nicht sind. Es gab sie noch nie. Was es gab und auch weiterhin gibt sind ausgesprochene oder auch unausgesprochene Erwartungshaltungen, die in Abhängigkeit vom Einfluss ihrer jeweiligen Meinungsführer mehr oder weniger zeitbeständig sind.

Der in Cambridge lehrende Wissenschaftshistoriker Simon Schaffer, bei dem ich in den achtziger Jahren lernen durfte, veröffentlichte zu dieser Thematik gemeinsam mit dem heute in Harvard lehrenden Steven Shapin das mit dem Erasmus-Preis ausgezeichnete epochale wissenschaftshistorische Standardwerk: Leviathan and the Air-Pump, Hobbes, Boyle and the Experimental Life (1985). Beide zeigen in diesem fabelhaften Buch, wie in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhundert, während und nach der Restauration, der englische Chemiker Robert Boyle mithilfe eines Männerbundes alliierter Glaubensgenossen in der Royal Society die Existenz des Vakuums gegen seinen Widersacher Thomas Hobbes, für den die natürliche Welt im Sinne von Aristoteles’ horror vacui ein Plenum sein musste, durchsetzt. Boyle gewann diese Auseinandersetzung, aber sein Erfolg war nicht irgendeiner einer „objektiven“ wissenschaftlichen oder methodischen Überlegenheit geschuldet, sondern seiner besseren Vernetztheit innerhalb der in der Restaurationszeit maßgeblich werdenden Royal Society.

Die von Hossenfelder inkriminierte Schönheit einer Theorie als heuristisches Moment, welches auf der Suche nach der Struktur eines „Teilchens“, hier des Higgs-Bosons, an bestimmten nur mathematisch, oder besser, „nur“ ästhetisch hypostasierten Strukturmerkmalen desselben festhalten will, ist daher prima facie nicht weniger legitim, wie jedes andere heuristische Kriterium, für das sich eine hinreichend große und einflussreiche Wissenschaftsgemeinschaft erwärmen kann. Nur post hoc wird man wissen, welche Suchheuristik welchen dafür aufgebrachten Aufwand rechtfertigen kann.

Ökonomie als Prinzip der adäquaten wissenschaftlichen Hypothesenwahl

Im Zweifel legitimer ist es aber, wenn ein von 23 (ausnahmslos demokratisch gewählten) Regierungen ausgehaltenes Gremium mit einem Jahresbudget von ca. 1 Mrd. EUR, welches beachtliche Erfolge, darunter auch Nebenprodukte wie z.B. das Internet, sozusagen als immateriellen der Gesellschaft dargebrachten Vermögenswert, auf seinem Haben-Konto gutschreiben kann, sich auf spezifische Suchheuristiken und Investitionen verständigt, als wenn dies eine Wissenschaftlerin im Alleingang tut, eine Wissenschaftlerin, die offenkundig dem wissenschaftstheoretisch längst widerlegten Glauben des naiven Reaalismus anhängt, wonach eine vermeintlich objektive Wissenschaft in der Lage ist,  die „realen“ Merkmale der „objektiven“ Natur zu identifizieren.

Diesem naiven Realismus wusste schon Paul Feyerabend entgegenzuhalten, dass jedes vermeintlich objektive Faktum „theoriebeladen“ ist, also nur so lange als Faktum haltbar bleibt, wie sich eine bestimmte Theorie unter Wissenschaftlern, Ingenieuren und normalen Menschen als nützlich erweist.

Die Naturwissenschaften, auch die „mathematische“ theoretische Physik, sagen nie etwas darüber aus, wie „die Natur“ objektiv beschaffen ist, sondern lediglich, wie die gerade am Ruder befindlichen Menschen sie wahrnehmen und interpretieren. Wenn Menschen die Natur mathematisch beschreiben können, zeigt das nur, dass Menschen offensichtlich einen rationalen Zugang zu ihr haben können, so wie Menschen die Natur ja auch sehen und hören können, ohne dass man deswegen behaupten wollte, ein Blatt sei objektiv „grün“ beschaffen oder die Nachtigall sänge ihre Partitur in „d-moll“?

Die Frage, welche Mathematik also zur Beschreibung eines Sachverhalts taugt und hypothetisch angenommen werden darf, solange sie dazu nicht als untauglich widerlegt wurde, kann sehr wohl eine ästhetische sein, denn das Prinzip der Ökonomie, welches diesem „ästhetischen“ Prinzip zugrunde liegt, ist ja eines, das einer stattlichen Zahl anderer natürlicher Phänomene, so wie sie von Menschen wahrgenommen werden, ebenfalls zu eignen scheint. Das „Schöne“ am mathematischen Prinzip der Ökonomie ist ja, dass es nicht nur von Nerds, sondern auch vom gemeinen Menschen verstanden wird und also mehrheitstauglich ist.

(c) 01.2019, Julian v. Hassell