Die „soziale“ Falle: Zum Abschied von der Qualität

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INSTAGRAM will Usern verschweigen, wie viele Likes die besuchten Seiten ernten

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FB plant, die Anzeige der Zahl der Likes auf INSTAGRAM vor Besuchern zu verbergen

Likes als vermeintliches Gütemerkmal von Social Media-Beiträgen
Der Facebook-Konzern hat soeben in sieben Staaten einen Pilotversuch begonnen, bei dem die Likes, die ein INSTAGRAM-Post erhält, für die Besucher der betreffenden Seiten ausgeblendet werden. User können nur noch die Zahl der Likes ihrer eigenen Posts ansehen, diese aber nicht mehr in Relation zu denen ihrer Benchmarks setzen. Als Grund für diesen zunächst nur INSTAGRAM betreffenden Pilotversuch, der aber vermutlich nur der erste Schritt auf dem Weg zu einem die gesamte Facebook-Familie betreffen Politikwechsel ist, wird seitens Facebook erklärt, man wolle, insoweit die Werbekunden mitspielten, vermeiden, dass labile Persönlichkeiten aufgrund des Vergleiches ihrer eigenen Posts mit denjenigen ihrer „Benchmarks“, psychische Schäden davon tragen oder sich gar mit Freitodgedanken tragen bzw. diese umsetzen.

Qualität als „Funktion“ von Quantität
Zwischen Quantität und Qualität herrscht in aller Regel ein Wechselverhältnis dergestalt, dass „viel“ einen Rückschluss auf den Grad einer korrespondierenden „Güte“ zulässt. Je nachdem, von wessen Qualität wir sprechen, sagt dieses Verhältnis entweder proportional oder umgekehrt proportional aus, dass so und so „viel“ x (beispielsweise richtig gelöste Mathematikaufgaben) einem so und so „guten“ y (beispielsweise einer Mathematikarbeit) korrespondieren. Die Güte von etwas wird so zu der Funktion einer bestimmten Menge von etwas anderem und ist von dieser Menge proportional oder eben umgekehrt proportional abhängig.

Der Schlüssel dieser Zuordnung, die Funktionsformel zur Bestimmung des Grads einer „Güte“ wird meist anhand von Vergleichsdaten, Benchmarks, definitorisch festgelegt. Diese Zuordnung ist sowohl hinsichtlich der gewählten Vergleichsdaten (Alterskohorte, Region, Geschlecht, Einkommen usf.) als auch hinsichtlich des definitorisch zugeordneten Gütegrades willkürlich gewählt. Üblicherweise bewegt sich die Zuordnung entweder vermeintlich objektiv entlang einer statistischen Normalverteilung oder aber sie ist auf ein gewünschtes Ziel hin (Beispiel Numerus Clausus: Studienplatznachfrage senken) interessegeleitet.  

Die willkürliche Zuordnung dieser Mengen zu Gütegraden erfüllt häufig eine rhetorische Aufgabe. Die „objektiv“ aussehenden Zahlen verbergen, dass ihre Zuordnung zu bestimmten Gütegraden eben von dem oder den Urteilenden auf der Grundlage eines willkürlich gewählten Schlüssels vorgenommen wird. Sie verbergen außerdem, dass die gewählten Worte natürlich willkürlich gewählt sind. Ob eine Klassenarbeit gut oder sehr gut „ist“, wird über die seitens des Lehrers zugeordnete Note nicht ausgesagt. Es wird, strictu sensu, nur ausgesagt, dass ein Lehrer x unter Zuhilfenahme eines Bewertungskatalogs y dieser Klassenarbeit die Note z zuzuweisen für angemessen hält.

Unbeschadet dieser Willkür ist die Zuordnung aber in aller Regel diskursiv nachvollziehbar und wird von den meisten Menschen als „angemessen“ akzeptiert. Wo dies nicht der Fall ist, kann sie angegriffen und korrigiert werden. Es sei denn, die Zuordnung erfolgt über eine Institution oder ein Monopolunternehmen mit soviel Einfluss, dass gegen die Definitionsmacht nichts unternommen werden kann.

Digitale Neudefinition von Qualität durch Facebook und Google
Was wir nun bei INSTAGRAM beobachten ist Folgendes: Der Facebook-Konzern möchte aufgrund des weltweit zunehmenden öffentlichen und intergouvernamentalen (USA, Kanada, Australien, EU) Drucks vermeiden, dass seine Nutzer sich in Gestalt eines still ausgetragenen Wettbewerbs untereinander vergleichen.

Es wird damit einerseits anerkannt, dass es für User offenbar wichtig, bisweilen anscheinend überlebenswichtig ist, mit ihren Beiträgen „geliked“ zu werden und zwar hinreichend oft, um im Vergleich mit der von den Usern jeweils gewählten Vergleichskohorte „bestehen“ zu können. Zugleich wird aber versucht, genau das, was diese User wollen, sich also zu vergleichen, zu unterbinden, vorgeblich, um potenziellen psychischen Schäden und Suiziden zuvorzukommen.

Der eigentlichen Kundschaft des Konzerns, der Werbewirtschaft und auch den „Lieferanten“ des Konzerns, den „professionellen“ Influencern, soll dieser Vergleich anonymisiert und nicht-individualisiert weiterhin zugestanden werden. Es wird vermutlich nachrichten- und öffentlichkeitswirksam erklärt werden, dass sich Facebook über die „Bedenken“ der Werbetreibenden und über den Ärger ihrer semiprofessionellen Microinfluencer hinwegsetzt, um ein Zeichen für eine humane Gesellschaft zu setzen. Denn wir wissen ja alle: „Eigentlich“ geht es Facebook „nur“ darum, dass sich die Menschen rund um den Globus besser und intensiver austauschen können.

PR-Coup
Was Facebook damit klammheimlich eigentlich veranstaltet, ist aber eine infame, die Unbedarftheit der Usergemeinde ausnutzende Umwertung aller Qualitäts-Werte: Sie bestärkt nämlich die User in dem Irrglauben, die Qualität, mindestens aber die Beliebtheit ihrer Beiträge sei eine Funktion der Zahl der von ihnen geernteten Likes. Die öffentlichkeitswirksam bekannt gegebene Mitteilung von Facebook, man erwäge die Anzeige der Zahl der Likes auf INSTAGRAM-Seiten zu entfernen ist ein cleverer Schachzug, der Verantwortungsbewusstsein für das Wohl der User suggeriert, tatsächlich aber dazu führen wird, dass diese User sich auf anderem Weg ihre Selbstbestätigung erst Recht abholen werden und Shortcuts ersinnen um doch herauszubekommen, wie sie im Vergleich zur Konkurrenz abschneiden.

Facebook hat also das bemerkenswerte Kunststück fertiggebracht, einerseits die Likes auf den INSTAGRAM-Seiten als sichtbares Beliebtheitssiegel abzuschaffen, zugleich aber den Usern klar zu machen, dass es tatsächlich nur darauf ankommt: In der Welt der sozialen Medien gibt es nur einen ernst zu nehmenden Qualitätsausweis: Die Zahl der von einem Beitrag geernteten Likes. Wo ein Wille ist, da ist auch immer ein Weg: Facebook hätte Anstrengungen unternehmen können, den Usern klar zu machen, dass Likes eben überhaupt kein Qualitäts-, ja nicht einmal ein zuverlässiges Beliebtheitsmerkmal der eigenen Beiträge darstellen. Damit aber hätte Facebook sein eigenes Geschäftsmodell verraten. Und so weit konnte man natürlich nicht gehen.

Die irrwitzige Suggestionskraft der „objektiven“ Zahl
Längst wird die digitale Identität einer Privatperson von den meisten Menschen (und Organisationen) als deren eigentliche öffentliche Identität begriffen, obwohl sie genau das nicht ist. Die meisten Menschen glauben tatsächlich, viele Likes auf eigenen Beiträgen bedeuteten, sie bzw. ihre Beiträge würden von ebenso vielen Menschen ebenso oft geschätzt. Diese simple Gleichsetzung ist in der gesamten digitalen Welt inzwischen selbstverständlich und wird nicht einmal mehr hinterfragt, und dies, obwohl dieselben Leute, die einen Nervenzusammenbruch erleiden, wenn ihre Beiträge nicht die selbstgelegte Hürde der zu erwartenden Zahl an Likes überspringen, bei der Erstellung und Redaktion dieser Beiträge alles nur Vorstellbare an taktischen Dope-Maßnahmen unternehmen, um die Zahl der Likes, der Follower, der Retweets zu erhöhen.

Sie wissen also, dass nicht nur, oder in erster Linie sie bzw. der Inhalt ihrer Beiträge es sind, die geliked werden, sondern in erster Linie deren „like“-gerechte Verabreichung. Sie wissen außerdem, dass sie selbst oft genug andere Beiträge nur deshalb liken, Followern nur deshalb folgen und Tweets nur deshalb retweeten, weil sie sich davon eine Steigerung und Stabilisierung der eigenen Fanbase versprechen.

Warum ist das falsch?
Unterstellen wir einmal, kontrafaktisch, man könne in den sozialen Medien nicht taktisch agieren und jedes Urteil sei „ehrlich“ gemeint. Selbst dann wäre der Like-Button ein schlecht gewähltes Beliebtheitszuspruchs-Signal und die Zahl der Likes ein ebenso schlechter Güteindikator. Denn dieser Indikator basierte auf unglaublich grobschlächtigen Signalen der Wertschätzung. Likes sind Hop oder Top-Signale. Ihre Entstehung, die Frage also, warum ein Mensch einen Beitrag liked oder eben nicht, wird überhaupt nicht sichtbar.

In seinem analogen Beziehungsnetz würde kein Mensch soweit gehen zu meinen, sein „Äußeres“ und seine „Äußerungen“ seien er selbst. Es würde auch kein Mensch hingehen und sein Äußeres und seine Äußerungen grundsätzlich, also immer so manipulieren, dass sie auf Zustimmung bei möglichst vielen Menschen stoßen, gleichgültig um wen es sich bei diesem Publikum handelt. Vielmehr würde die Person bestrebt sein, nur bzw. vor allem dort einen besonders positiven Eindruck zu hinterlassen, wo dies für diese Person, aus welchen Gründen auch immer, besonders wichtig ist.

Außerdem wäre diese analoge Person fähig, die komplexen Feedback-Signale ihrer menschlichen Umwelt individuell, also Feedback für Feedback, wahrzunehmen und zu interpretieren und anschließend zu analysieren. Digital ist das nicht möglich ist, da sich dieses Feedback eben nur binär, „like“ oder nicht, „Follower“ oder nicht, manifestiert, wobei ein ausbleibender Like überhaupt nicht sichtbar wird. Man erfährt also im Normalfall als User nicht einmal, ob ein Beitrag nur nicht registriert wird oder ob er zwar registriert aber eben nicht geliked wird. Klar, man kann auch kommentieren. Aber Kommentare lassen sich nicht so sexy quantifizieren wie Likes oder Follower.

Man muss dann auch die Inhalte der Kommentare messen – wiederum binär, um vergleichsfähige Daten zu gewinnen. Tatsächlich geschieht das ja auch. Aber an die Wirkmächtigkeit des Like-Buttons kommen Kommentare nicht heran. Und: Gesichtsausdruck, Wortwahl, Gestik und verbale Äußerungen sind immer unendlich vielsagender und aussagekräftiger als ein nach oben gestreckter Daumen.
Gegenüber dem Reichtum des verbalen oder auch nonverbalen face-to-face-Kommentars oder ersatzweise des schriftlichen Kommentars ist ein Like inhaltlich ein nachgerade lächerlich schwaches Signal. Gerade deswegen ist es mittelfristig ein so potenter Gleichmacher der darüber qualifizierten Inhalte.

Hey – wozu brauch‘ ich Qualität?
Nicht nur Facebook und INSTAGRAM, sondern auch Google üben einen im wahrsten Sinne des Wortes Qualität einebnenden Nivellierungsdruck aus. Verzicht auf Qualität ist der Preis für die Sicherstellung von „Awareness“, Wahrnehmung. Wer mit WordPress arbeitet weiß, dass komplexe Argumente, außergewöhnliche Worte, wirkungsvolle Headlines usf. dem Google Such-Algorithmus angedient werden und von Google gnadenlos abgestraft werden. WordPress Addons und Plugins sagen einem, was man tun kann und soll, um die „Wirkung“ des Beitrages zu optimieren: Wörter eliminieren bzw. austauschen, belanglose Alltagssprache einfließen lassen, Headlines vereinfachen, Schlüsselworte wiederholen usf.

Man könnte dem entgegenhalten, auch „konventioneller“ Journalismus stelle spezifische Ansprüche an die Syntax und an die Art und Weise, wann, wo und vor allem wie welche Inhalte transportiert werden sollen, um Wahrnehmung sicher zu stellen. Das ist natürlich richtig. Der Unterschied zu „sozialen“ Beiträgen ist, dass für Journalisten die Arbeit mit dem regelgerecht ausgeführten journalistischen Handwerk nicht aufhört, sondern beginnt. Am Ende zählt die Qualität des journalistischen Beitrages und die lässt sich nicht binär evaluieren – selbst wenn natürlich auch die Presse ihre Digitalausgaben mit Angeboten zum Liken, Kommentieren und Weiterleiten versieht. Beiträge von Privatpersonen und Micro-Influencern werden dagegen fast ausschließlich anhand ihres Like-Zuspruches gemessen. Ihr Inhalt kann es sich daher leisten trivial zu sein. Da hat Facebook ganze Arbeit geleistet.