Vom Nutzen der Vorurteile – oder: Wie Analysten die Gegenwart aus der Zukunft ableiten (Teil 1/3)

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Wodurch unterscheiden sich Historiker von Analysten?

Was unterscheidet Historikerinnen und Historiker von Analystinnen und Analysten? Blöde Frage! Die einen befassen sich mit Geschichte, die anderen mit Unternehmen und Märkten.

Diese Antwort ist falsch. Denn natürlich können sich Historiker auch mit Unternehmen und Märkten beschäftigen. Die Spezialdisziplin Wirtschaftsgeschichte befasst sich ausschließlich mit ihnen.

Neuer Versuch: Die einen befassen sich mit der Vergangenheit, die anderen mit der Zukunft. Schon besser. Aber auch nicht ganz. Denn einerseits befassen sich Historiker, leider, oft genug auch mit der Zukunft – etwa dann, wenn sie meinen, man könne aus der Vergangenheit „Lehren“ für die Zukunft ziehen. Meine diesbezügliche Skepsis hatte ich in meinen letzten Posts deutlich gemacht. Andererseits beschäftigen sich Analysten, egal ob sie betriebs- oder volkswirtschaftlich, mikro- oder makroökonomisch ausgerichtet sind, natürlich nicht allein mit der Zukunft eines Wertpapiers, Unternehmens oder einer Volkswirtschaft. Denn ihre Prognosen basieren ja gerade auf ihrer Analyse der Vergangenheit eines Unternehmens, einer Branche, eines Marktes und/oder einer Volkswirtschaft. Deswegen bezeichnen wir sie ja als „Analysten“.

Meine Leserinnen und Leser merken vermutlich schon jetzt, worauf ich hinaus will: Es gibt keinen signifikanten Unterschied. Beide Disziplinen schauen sich die Vergangenheit von etwas an und ziehen daraus auch Schlüsse für die Zukunft dieses selben etwas. Der Unterschied zwischen beiden Berufsgruppen ist nur, dass Analysten mit dem erklärten Ziel, die Zukunft vorauszusagen in die Vergangenheit blicken, während Historiker letzteres allenfalls nebenberuflich und inoffiziell tun, wohl wissend, dass sie dabei die Grenzen ihres Faches überschreiten. Was Historiker außerdem von Analysten unterscheidet, ist, dass letztere regelmäßig auch umgekehrt die Gegenwart aus der Zukunft ableiten. Täten Historiker dies, würden wir ihnen nahelegen, sich psychiatrisch untersuchen zu lassen. Für Analysten ist es, bei ähnlich solider, im Zweifel sogar eher schlechterer Datenlage, die Regel.

Wie bitte?

Natürlich! Fundamental ausgerichtete Analystinnen und Analysten schauen sich z.B. die Performance eines Unternehmens in der Vergangenheit an, analysieren vor diesem Hintergrund, wie belastbar die kurz-, mittel- und langfristigen Umsatz- und Ergebnisprognosen dieses selben Unternehmens in ihren Augen sind und ermitteln daraufhin einen auf den Zeitpunkt ihrer Analyse abgezinsten Barwert dieses Unternehmens.

„Aus der Geschichte lernen“?

Schauen wir uns nun Historiker an. Sie analysieren Vorfälle und Geschehnisse in der Vergangenheit, wobei es ihnen –  meistens nicht um ein individuelles historisches Einzelereignis oder ein menschliches Individuum geht, sondern um größere Zusammenhänge, die vom Datenvolumen und -spektrum regelmäßig umfangreicher sind, als es beispielsweise ein einzelnes Unternehmen, ein spezifischer Markt oder eine regional umrissene Volkswirtschaft ist.  

Und regelmäßig blicken Historiker außerdem, meist auf öffentliches Bitten, in die Zukunft, jedenfalls dann, wenn sie gebeten werden, ein gegenwärtiges Zeitgeistphänomen „im Lichte ihrer historischen Kenntnisse“ zu deuten, Prognosen darüber abzugeben, worauf man sich als Folgen dieser Phänomene einstellen muss und auf dieser Grundlage Handlungsempfehlungen veröffentlichen, wie man dann zweckmäßigerweise reagiert, ohne „die Fehler der Vergangenheit“ zu wiederholen.

Wir hören ständig, dies und das dürfe „sich nicht wiederholen“, der Nationalsozialismus, das Jahr 2015,… . „Deswegen“, wird uns dann gesagt, müsse man heute im Lichte der Geschichte dies und das tun. Auch im Corona-Kontext „lernen“ wir, welche „Fehler“ gegen Ende des 1. Weltkriegs im Kontext der Spanischen Grippe begangen wurden, was „richtig“ gemacht wurde, warum beide Pandemien und der Umgang mit ihnen vergleichbar sind und was wir aus dem Umgang mit der Spanischen Grippe für den Umgang mit Corona lernen können.

Was Historiker allerdings, wie gesagt, nicht tun, ist den „Wert” von irgendetwas Gegenwärtigem aus der Zukunft dieses selben Gegenwärtigen abzuleiten.

Unendlich große Datenpools: Historiker und Analysten analysieren zwangsläufig willkürlich und auch „falsch“

Analysten und Historiker liegen nun beide regelmäßig mit ihren Analysen und Prognosen krass jenseits der irgendwann eintreffenden empirischen Realität. Wenn sie ins Schwarze treffen, ist das fast immer dem Zufall geschuldet und hat nichts mit der Qualität ihres Urteils zu tun. Dass das so ist, müsste eigentlich a priori für jeden klar denkenden Menschen selbstverständlich sein, denn

  1. besteht die Vergangenheit aus unendlich vielen Fakten, sodass es schlechterdings unmöglich ist, aus dieser Unendlichkeit alles herauszufiltern, was für heute und für morgen, gegenwärtige und künftige Ereignisse, relevant werden könnte,
  2. lässt sich vieles, um nicht zusagen fast alles, das in der Vergangenheit spielte, verschieden interpretieren – unbestreitbare bzw. unbestrittene Fakten gibt es zwar,aber es sind, jedenfalls im Vergleich zu der Menge der Umstrittenen, nicht viele und sie sind trivial: „Hitler wurde in Braunau geboren… .“
  3. besteht auch die Zukunft für eine/n jede/n von uns aus unendlichen vielen fundamental unbekannten und – vor allem – autonomen, also, jedenfalls soweit wir das beurteilen können, durch die Vergangenheit nicht determinierten Daten,
  4. ist das Zusammentreffen und Zusammenwirken der zukunfts(mit)bestimmenden Faktoren der Vergangenheit mit autonomen, also nicht als Resultante einer Vergangenheit auftretenden, sondern spontanen bzw. von uns spontan wahrgenommenen Ereignissen in der Zukunft nicht vorhersagbar: Weder wissen wir, was da gegebenenfalls zusammentreffen wird, noch ob es zusammentreffen wird und schon gar nicht wissen wir, wie es gegebenenfalls zusammentreffen wird; und
  5. können wir mit unserer Erfahrung der Vergangenheit und derjenigen der Gegenwart nicht zureichend antizipieren, welche der von uns gemutmaßten Zukunftsvarianten wir dann, wenn sie eintreten, tatsächlich für positiv und wünschenswert halten werden und welchen wir im Rahmen unserer gegenwärtigen Möglichkeiten lieber präventiv den Garaus machen wollen.

Weil das so ist, lassen ernsthafte Historiker meist ihre Finger von der Zukunft. Sie wissen erstens, dass ihre Sicht auf die Vergangenheit selbst unter solidester Berücksichtigung der Quellenlage, wesentlich ein subjektiver, willkürlicher Blick ist, der ihnen selbst und ihren Lesern zwar Orientierung bietet, doch eben eine Orientierung, die so gewünscht und gewollt ist und nicht einer vorurteilsfreien Sicht auf die Vergangenheit geschuldet ist. Und sie wissen zweitens, dass diese Orientierung wenig Hoffnung darauf bietet, dass man aus ihr auch eine Orientierung für zukunftsgerichtetes Handeln ableiten kann.

Unter Analysten hat sich diese Einsicht noch nicht durchgesetzt. Denn ihr Job ist es nun mal, die Gegenwart aus der Zukunft eines Unternehmens oder Marktes abzuleiten, von der sie vorgeben Kenntnis erlangt zu haben, indem sie sich mit deren Vergangenheit auseinandergesetzt haben. Und wer sägt schon gerne an dem Ast, auf dem sie oder er sitzt?