Was ist hier Fakt?
Über die unternehmerische Verachtung der Theorie bei gleichzeitiger Hochachtung der Wissenschaften

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Theorie-Praxis
Über die unternehmerische Verachtung der Theorie bei gleichzeitiger Hochachtung der Wissenschaften
Theorie ist Praxis

Über die unternehmerische Verachtung der Theorie bei gleichzeitiger Hochachtung der Wissenschaften

Eine Grundkonstante meines guten Vierteljahrhunderts selbstständiger Existenz ist, dass nahezu alle selbstständigen Kolleginnen und Kollegen in ihrem Alltag eine tief empfundene Abscheu gegenüber allem „Theoretischen“ hegen. Dies gilt für Gründerinnen und Gründer ebenso wie für etablierte große und kleine Gewerbetreibende, Mittelständler, Freiberufler usf.: „Das ist mir zu theoretisch!“, „Das ist akademisch!“, „Das mag ja in der Theorie so stimmen, aber hilft uns doch hier nicht weiter!”…

Dieselben Macher hegen andererseits größten Respekt gegenüber Fakten und Tatsachen und sie achten deswegen grundsätzlich auch „die Wissenschaft“ sehr, die solche Fakten zutage fördert. Wir erleben dies gerade entlang der Fronten der Klimadebatte. Nicht nur Greta bemüht sie, „die Wissenschaft“. „Klimaleugner“ und „Klima-Kleber“ und alle, die sich im Graubereich zwischen den Linien bewegen, machen genau dasselbe. Jede Seite sucht und findet ihre eigene, natürlich „objektive” Wissenschaft.

Alternative Fakten

Es bedurfte des zynischen Temperaments einer Kellyanne Conway, um den „Machern“ in Wirtschaft (und Politik) ohne Absicht ins Gedächtnis zu rufen, dass Fakten immer theoriebeladen sind, ob man das nun will oder nicht. Zur Rekapitulation: Als Sean Spicer, der Pressesprecher des fischgewählten amerikanischen Präsidenten Donald Trump, nach dessen Inaugurationsfeier den vermeintlichen Zuschauerrekord Trumps rühmte, obwohl sich diese Zuschauerzahl gemessen an der Zahl der Applaudierenden, die bei der Amtseinführung von Barak Obama die Pennsylvania Avenue säumten, eher gering ausnahm, erklärte Conway denen, die Spicer der Lüge überführen wollten, trocken, Spicer habe „alternative Fakten“ im Blick gehabt. Im Jahr 2019 fanden wir das alle irgendwie lustig. Ein Fakt ist schließlich Fakt, an dem niemand vorbei kommt. Dachten wir. Inzwischen wissen wir, dass auch solche Bilder mühelos manipuliert werden können und es dazu noch nicht einmal der Instrumente der wundersamen virtuellen Realität bedarf. Dass ausgerechnet Trump dem Kampfbegriff Fake News zum Durchbruch verhalf, ist unterhaltsam, widerlegt aber nicht das eigentliche Selbstverständliche, dass es die eine unumstößliche Wahrheit tatsächlich nicht gibt.

Unumstößliche Fakten gibt es nicht

Denn mit der „Objektivität“ der Fakten ist es nicht weit her. Wir dürfen annehmen, Ms. Conway war sich nicht bewusst, dass ihr Statement so absurd in Wahrheit gar nicht war. Dass es bei den Perzeptionen der Sinne in den „Anschauungsformen“ von Raum und Zeit immer einer konzeptionellen, begrifflichen Komponente bedarf, damit daraus Erfahrung werden kann, das erkannte so ausdrücklich als erster Immanuel Kant. Nach ihm arbeitete der Yale-Wissenschaftstheoretiker Norwood Russell Hanson diesen Sachverhalt tiefer heraus, ehe Thomas Kuhn, Harvard, und Paul Feyerabend, Berkley, letzterer mit deutlich polemischem Akzent, klar machten, dass es so etwas wie eine objektive wissenschaftliche Wahrheit weder gibt noch jemals gegeben hat oder geben kann.

Die Messlatte wissenschaftlichen Fortschritts ist ihr praktischer Nutzen – für die Wissenschaftler

Weil dem so ist, man aber als Wissenschaftler ja dennoch irgendwie voran kommen und „Fortschritte“ anhand irgendwelcher vernünftigen Maßstäbe machen möchte – auch in der sogenannten Grundlagenforschung – , deshalb sind die Gemeinden der Wissenschaft tatsächlich ungeheuer pragmatisch in ihrem Denken und Handeln.

Anders als uns die Pragmatiker des Alltags in der Wirtschaft und Politik glauben machen wollen, findet Fortschritt auch innerhalb der theoretischen Wissenschaften nur statt, weil sich dort herrschende Meinungen bilden, denen man anhängen kann aber nicht anhängen muss und die man mehr oder weniger freiwillig verlassen darf (je nachdem, wie mutig man ist und wichtig einem der Arbeitsplatz ist). Minderheiten mit abweichenden Auffassungen werden toleriert und sogar gehört. Sich zu einer Mindermeinung zu bekennen ist riskant, bietet aber auch Chancen, denn sie fallen auf. Minderheiten werden nicht gedisst, solange sie sich normengerecht im Rahmen der Regeln der jeweiligen Nomenklatur artikulieren und verhalten. Nicht die objektive Natur da draußen ist also der eigentliche Gradmesser für die Qualität einer Theorie, sondern der Konsens unter denjenigen Wissenschaftlern, die von den anderen als relevant eingestuft werden.

Wer sich am Ende durchsetzt ist, das sind nicht die, die die Wahrheit „gesehen“ oder die Weisheit zwingend mit Löffeln gegessen haben. Vielmehr ist dies regelmäßig eine meinungsbildende Elite, deren Argumente entweder besser, vulgo überzeugender sind oder deren Auffassung von angeseheneren Advokaten in reputableren Organen als denen der Mindermeinungen vorgetragen werden. Die Mindermeinung muss am Katzentisch Platz nehmen und darauf hoffen und daran arbeiten, irgendwann vielleicht dennoch Gehör zu finden. Meinungsbildung in der Wissenschaft ist Lobbying, Public Relations, Kapital- bzw. Fördermittelakquise und sie ist auch die Frucht der Jagd auf Ämter, Einfluss und Karriere. Das vergessen diejenigen, die sich „die Wissenschaft“ immer noch als behaglichen Klostergarten vorstellen, in dem ewige Wahrheiten im Fluidum der reinen Theorie wachsen und gedeihen dürfen. Eine solche Wissenschaft und eine solche Theorie hat es nie gegeben.

Trotzdem gibt es wissenschaftlichen Fortschritt

Wirklich staunenswert daran ist nun, dass diese pragmatischen Köpfe der Theorie, trotz ihres meist sehr individuellen Antriebs, über die Jahrhunderte und über kleine und große Umwege hinweg, dennoch der Wirklichkeit da draußen durchaus näher gekommen sind. Woran wir das erkennen? An dem Nutzen, den sie uns Menschen gebracht haben: Impfstoffe gegen AIDS und Corona, wiederverwendbare Raketen, das Internet… . Derlei Fortschritte hat es in der Geschichte der Menschheit nicht am laufenden Band, sondern oft erst in „disruptiven” Schüben gegeben, doch es hat sie eben über die Jahhunderte in staunenswerter Menge gegeben. Sie haben stattgefunden, obwohl die Messlatten dieses Fortschritts im Laufe der Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte keineswegs kongruent waren. Und noch einmal: Sie haben stattgefunden, obwohl wir Menschen, egal ob Wissenschaftler oder Laie, keinen blassen Schimmer davon haben können, wie die Welt, jenseits unserer menschlichen Perspektive auf sie, tatsächlich beschaffen ist. Unser wissenschaftliches Weltverständnis ist zwangsläufig anthropomorph, genauso anthropomorph wie das Weltverständnis der Unternehmerinnen und Unternehmer, Politikerinnen und Politiker,… . Und dennoch konnten und können wir diese Welt Stück für Stück, nach und nach, irgendwie zu unserem Nutzen entschlüsseln, gestützt auf Theorien, Hypothesen und Beweise, die Wissenschaftler ersonnen haben, um sich die Welt verständlich und/oder um ihre Karriere erklecklich zu gestalten.

Dass bei dem Be-Greifen dieser Welt mit Hilfe von Versuchen und Instrumenten diese Welt eo ipso manipuliert und verändert wird, das ist nach der speziellen Relativitätstheorie eigentlich eine Allerwelts-Weisheit. An der Fiktion einer unbestechlichen Wissenschaft, welche die objektive Natur, jenseits unserer menschlichen Perspektive zum Gegenstand hat, halten wir trotzdem fest und grenzen sie gegen die eben nur vermeintlich pragmatischeren Welten der Wirtschaft oder auch der Politik ab.

Wissenschaftler sind (eigentlich) Unternehmer

Gute Wissenschaftler sind guten Unternehmern strukturell in ihrem Denken und Handeln sehr, sehr ähnlich. Klar, das ist jetzt eines sehr verallgemeinernde Behauptung. Was heißt hier jeweils “gut”? Gute Lobbyisten? Gute Influencer? Ja, genau, aber eben stets innerhalb der jeweils relevanten Zielgruppe. Im Reich der Theorie gibt es „Startups“ und „Incumbents“, Disruptionen und Pivots, belegte und falsifizierte Hypothesen, Erfolg und Mißerfolg, gute und schlechte Erfolgsinidkatoren, kurz: eigentlich alles, was es auch im Reich der Wirtschaft oder auch der Politik gibt. Vielleicht ist das ein Grund dafür, dass sehr gute Wissenschaftler nicht selten auch sehr gute Unternehmer sind.

In der nächsten Folge wollen wir uns mit dem Wandel der Wahrheitskriterien wissenschaftlicher Theorie und empirischer Praxis befassen.