Mit einem abschließenden Post meiner kleinen Serie zum fragwürdigen Informationsgehalt historischer Betrachtungen (zwecks adäquater Beurteilung einer aktuellen Situation samt daraus folgender Entscheidungsfindung zur Herbeiführung einer wünschenswerten Zukunft – uff) möchte ich noch einmal meine wesentlichen Punkte bündeln. Denn ich fürchte, die etwas kleinteilig geratene historische Schau hat den Blick auf die mir wesentlich erscheinenden Gesichtspunkte etwas in den Hintergrund treten lassen.
Erstens: Wer heute meint, er oder sie wisse, dass wir in einer historischen Umbruchssituation leben und vor allem, warum das so ist, irrt mit hoher Wahrscheinlichkeit
Mir scheint hinreichend klar geworden zu sein, dass es ein Fehler ist zu meinen, wir könnten als Zeitgenossen der heutigen politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen globalen „Umbrüche“ belastbare Aussagen dazu treffen, welche dieser Umbrüche in einer ferneren Zukunft, sagen wir in 50 bis 100 Jahren, tatsächlich als „historisch“ eingestuft werden und, falls einige von ihnen dies tatsächlich werden, in welcher Hinsicht und warum sie so eingestuft werden.
Zweitens: Daraus folgt aber nicht, dass Historiker zwingend besser urteilen
Dem gegenüber möchte ich zweitens das vielleicht Selbstverständliche festhalten, dass nämlich Urteile künftiger Historiker auf das Heute, genauso wie das Urteil heutiger Historiker auf das Gestern, subjektiv sind und subjektiv sein werden. Sie werden in zweierlei Hinsicht durch eine subjektive Brille getroffen, einmal aus einer „kollektiv-subjektiven Sicht“ (der sich Historiker selbst dann nicht entziehen können, wenn sie sich bewusst gegen eine zeitgenössische herrschende Meinung abzugrenzen suchen) und zum zweiten aus einer individuellen, persönlich-subjektiven Sicht, mit der jeder Historiker nolens volens auf die Vergangenheit blickt. Kurz: Nicht nur wir Zeitgenossen sind mit Blick auf Urteile zu unserer heutigen Zeit befangen; die Historiker sind es auch.
Drittens: Historiker sehen aber mehr
Wenn der Blick von Historikern und Zeitgenossen gleichermaßen subjektiv ist, worauf können wir dann unser Urteil überhaupt noch bauen? Gibt es, jenseits der groben Cluster zeitgenössisch vs. historisch, überhaupt wissenschaftlich oder anderweitig belastbare Kriterien, die ein Urteil x gegenüber einem Urteil y als besser, zutreffender, sachhaltiger ausweisen können? Zwar gibt bzw. gab es zu jeder Zeit Regeln des angemessenen wissenschaftlichen Umgangs mit den unter Beobachtung stehenden Phänomenen einer Zeit, doch da diese Regeln selbst historisch bedingt sind, können wir aus ihnen nicht ableiten, dass sie morgen noch Geltung beanspruchen dürfen.
Ich meine, die subjektive Sicht der Historiker ist besser und objektiver als eine zeitgenössische. Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel. Sagen wir daher vielleicht besser: Die historische Sicht hat das Potenzial besser und vor allem mehr zu sehen, als die jeweils zeitgenössische. Beide sind nicht „gleichermaßen subjektiv“. Was das historische Urteil gegenüber dem zeitgenössischen auszeichnet, ist, dass es Folgeereignisse kennt, die ein zeitgenössisches noch nicht kennen kann.
Die Geschichten und kausalen Verbindungen, die Historiker zwischen Ereignissen konstruieren, die bereits stattgefunden haben, mögen willkürlich, plausibel oder auch weniger plausibel erscheinen. Ihre Richtigkeit beweisen lässt sich schon gar nicht.
Doch die Ereignisse selbst muss es immerhin gegeben haben. Die Geburt Napoleons auf Korsika ist keine Erfindung. Sein Konsuls-Mandat auch nicht. Die Schlacht von Austerlitz ist es nicht und die von Waterloo genauso wenig. Dass Napoleon auf Elba zwischen 1814 und 1815 im Exil war, steht außer Frage und dass er 1821 auf St. Helena verstarb auch. St. Helena ohne Elba wäre möglich gewesen, wahrscheinlich aber wohl doch eher nicht.
Noch eklatanter ist der Vorzug einer historischen Sicht gegenüber einer nur zeitgenössischen, wenn wir über wissenschaftliche Entdeckungen oder Erfindungen sprechen. Auch hier ist nie beweisbar, welche Entdeckung oder welche Umstände eine Folgeentdeckung triggerten. Aber wenn wir uns nicht nur die Entdeckungen selbst, sondern auch die Diskurse der Wissenschaftler untereinander ansehen, die zu ihnen führten, dann ist es schon schwierig, sie als irrelevant oder irreführend abzutun, weil sie der Story eines exzentrischen Beobachters vielleicht zuwiderlaufen.
Viertens: Auch wenn die Historiker mehr sehen: Eine Handlungsempfehlung für heutige Entscheidungen mit Wirkung auf die Zukunftz lässt sich aus ihrer Interpretation der Vergangenheit nie ableiten
Der historische Blick taugt, leider, trotzdem nicht viel, wenn es gilt, Entscheidungen für die Zukunft zu treffen. „Aus“ oder „von der Geschichte lernen“ funktioniert nie, weil sich Geschichte nie wiederholt.
Schon die Definition von zwei Phänomenen als jeweils ein Phänomen x oder y ist eine willkürliche. „Französische“ Revolution“ oder „Dampfmaschine“ bedeuten für unterschiedliche Leute jeweils etwas ganz anderes.
Die „Lektion“, die wir aus der Geschichte gelernt haben oder gelernt haben sollen, hilft nichts, wenn es nicht gelingt, eine gegenwärtige Situation belastbar als einen konkreten Anwendungsfall für diese Lektion begreifen zu können. Wie oft ist bis heute gesagt worden, etwas dem Nationalsozialismus Vergleichbares dürfe sich nie widerholen? Das hätte man als Norm nicht aufstellen müssen, denn der Nationalsozialismus, so, wie er sich damals ereignet hat, wird sich ganz sicher so nicht noch einmal ereignen.
Ich habe gezeigt, wie der preußische Landadel in der Gründerzeit auf die Emanzipation des „neureichen“ Bürgertums reagierte und wie viele Meinungsführer unter den Bürgern begannen, sich aus Angst vor dem Abstieg auch rassistisch gegenüber vermeintlichen Aufsteigern zu Wehr setzten.
Anhand der Studien von Robert Putnam zeigte ich, wie in der nordamerikanischen „Gilded Age“, ähnlich wie in der mitteleuropäischen Gründerzeit, einige soziale Schichten profitierten und andere nicht und wie mutmaßlich auch deswegen der amerikanische Rassismus – hier zunächst nicht gegen Juden, sondern gegen Schwarze, jenseits des institutionalisierten Rassismus besonders in den Südstaaten, zusätzlich virulent wurde.
Aus diesem Vergleich kann man sicherlich einiges ableiten, um die damaligen Zeiten in Deutschland und Europa besser zu verstehen. Aber bietet er a) eine Verständnisressource und b) eine Handlungsempfehlung für das Heute? Ersteres ja, letzteres wohl kaum.
Beispiel Umgang mit Rassismus
Wir verurteilen heute z.B. weltweit Rassismus nicht weil er scheitert/e, sondern weil wir ihn moralisch verwerfen. Dass wir ihn moralisch verwerfen, muss man aber wohl leider auch an seinem Scheitern festmachen. Es gibt ihn anderswo noch immer. Und zwar nicht so sehr, jedenfalls nicht mehr dominant oder eingestanden, in der ersten Welt, wo er schließlich auch als erstes scheiterte, als vielmehr und vor allem in der dritten.
Doch welche Handlungsempfehlungen oder Lehren können wir in Europa und Nordamerika aus dem Scheitern der rassistischen Restauration in den USA der 50iger und 60iger Jahren ziehen?
Die Verhältnisse haben sich komplett geändert. Das Silicon Valley, also der Ort, an dem die wirtschaftliche Potenz und das intellektuelle Kapital Amerikas besonders hell leuchtet, wird maßgeblich von Migranten geführt und betrieben. Es gab bereits einen „schwarzen“ amerikanischen Präsidenten und es gibt jetzt eine farbige Vizepräsidentschaftskandidatin. Aber es gibt auch Trumps „Mauer“ und es gab unlängst Ereignisse, die den Slogan „Black Lives Matter“ auf den Plan riefen.
Für den Umgang mit dieser neuen Situation gibt es kein Rezept der Geschichte.
Und in Europa verhält es sich im Angesicht
der heutigen Migrantenströme ähnlich. Lässt sich aus der „Völkerwanderung“ im
4.-6. Jahrhundert in Europa irgendetwas für die globale Völkerwanderung heute lernen?
Lässt sich aus den Migrantenströmen des 18. und 19. Jahrhunderts von Europa nach
Amerika und des 20. und 21. Jahrhunderts aus Asien und Lateinamerika nach
Amerika irgend eine Handlungsempfehlung für das Handling der Migrantenströme
heute ableiten? Mir fällt nichts ein.
Gustav Stresemann und Sergio Marchionne
Ich habe auch zu zeigen versucht, was für eine singuläre Figur Gustav Stresemann war, der es als Sohn eines kleinen Bierverlegers zum Außenminister der Weimarer Republik brachte, zum Friedensnobelpreisträgers in der Folge des 1. Weltkrieges. Sein Handeln, sein Mut waren wirklich außergewöhnlich. Er verteidigte Juden gegen beginnende Anfeindungen aus allen Lagern und er tat dies nicht, weil er es tun musste, sondern weil er es wollte.
Ich zeigte auch, dass sich Stresemann nicht um Kleidungskonventionen scherte – vor 100 Jahren, als Kleidungsvorschriften, zumal auf diplomatischen Parkett, beinahe Gesetzescharakter hatten! Stattdessen schuf er aus dem Stehgreif und aus durch und durch pragmatischen Gründen selber Mode – den Stresemann eben. Lässt sich dieses Verhalten strukturell oder soziokulturell verorten und verstehen? Wohl kaum. Nur das Individuum selbst kann hier als Begründungsressource herhalten. Sicherlich könnte man psychologische Erklärungsmuster, vielleicht auch medizinische zu Hilfe holen. Sie bieten vielleicht eine gute Erklärung, die man glauben kann oder möchte. Eine sichere Erkenntnisbasis bieten sie auf keinen Fall. Aus singulären Figuren lassen sich keine Handlungsempfehlungen ableiten. Für gemeinhin positiv bewertete singuläre Figuren gilt dies ebenso wie für negative: Napoleon, Hitler, Churchill … .
Vergleichen wir jetzt Gustav Stresemann mit einem vielleicht vergleichbar bedeutenden Mann unserer heutigen Zeit. Ich meine den inzwischen verstorbenen Fiat-Herrscher Sergio Marchionne. Der Vergleich ist natürlich gewagt. Er drängte sich mir deswegen auf, weil Marchionne ähnlich selbstgewiss und „arrogant“ auf Anzug und Krawatte verzichtete, nachdem er Fiat CEO wurde. Seine Begründung für Hemd und Pullover sind ähnlich legendär wie Stresemanns Begründung für seinen Stresemann. Und auch Marchionnes Kleidungsstil hat Geschichte geschrieben. Heute kleidet sich jeder Investor, der etwas auf sich hält, wie Marchionne – weltweit.
Der Vergleich Stresemann – Marchionne ist sicherlich unterhaltsam und vielleicht auch lehrreich. Nur eine Lehre für die Zukunft liefert er uns sicherlich nicht. Geschichte besteht nicht nur aus Strukturen, Ereignissen, Sachverhalten und Kontexten. Sie besteht außerdem und vielleicht sogar vor allem aus Subjekten, die spontan und unberechenbar handeln und so erst Texte und Kontexte schaffen.
Fünftens: Daher ist es wichtig, denjenigen entgegenzutreten, die heute schon zu wissen glauben, wie es morgen auf der Welt aussehen wird.
Ist das nun alles nur hübsche graue Theorie? Das glaube ich nicht! Was ist nicht schon alles fabuliert worden über die Umbrüche unserer gegenwärtigen Zeit – von Praktikern, Intellektuellen und Möchtegern – Intellektuellen: Woher sie herrühren und wo sie hin hinführen!
Der an der Wharton School in Philadelphia lehrende Pop-Intellektuelle Jeremy Rifkin, der in seinem Buch Die Null Grenzkosten Gesellschaft den oben beschriebenen Fehler des Ableitens der Zukunft aus der Vergangenheit gemacht hat und mit Begriffsprägungen wie dem kollaborativen Gemeinwohl („Collaborative Commons“) berühmt wurde, ist einer von vielen, die die von uns Zeitgenossen als revolutionär wahrgenommenen technologischen und ökonomischen Umwälzungen vom 3D-Druck über „die“ Künstliche Intelligenz bis zur Sharing Economy mit einen nachgerade marxistisch anmutenden Anspruch an den qualitativen Fortschritt der Geschichte als zwingende historische Folgen aus den Aporien des Kapitalismus gegen Ende 20. Jahrhunderts deuten und uns heute, in einem durchaus lobend gemeinten Sinn, sehr nahe am qualitativen Gipfel der Menschheitsgeschichte verorten.
Seine Argumente sind dabei, jedenfalls wenn man heutige wissenschaftliche Kriterien angemessener Geschichtsschreibung anlegt, ausgesprochen schwach und werden den von ihm in einem Handstreich abgerissenen Epochen der Wirtschaftsgeschichte in keiner Weise gerecht.
Rifkin griff auch die von Robert Putnam in meinen beiden letzten Posts ausführlich beschriebene soziohistorische Analyse des Zeitalters der Industrialisierung und des heutigen Internetzeitalters auf und machte sich Pierre Bourdieus und Putnams Begriff des „sozialen Kapitals“ als Ressource seiner Sharing Economy zu eigen.
Während Putnam aber, nach unseren gegenwärtigen Kriterien, wissenschaftlich sauber, zwischen dem Gestern und dem Heute trennte, seine Beschreibung des Gestern mit reichlich Datenmaterial unterlegte, vor Analyse-Schnellschüssen spürbar ängstlich zurückwich und für das Morgen lediglich seine persönlichen Wünsche und Hoffnungen äußerte, so wie ich sie im letzten Post zusammengefasst habe, fabriziert Rifkin aus dem Gestern und dem Heute eine „große Story“, in der dann auch das Morgen seinen Platz findet.
Für diejenigen, die gerne an der Oberfläche bleiben, mag dies erbaulich sein. Für alle anderen ist die Lektüre Zeitverschwendung.
Doch am Ende spielt es weniger eine Rolle, wie sorgfältig die Geschichtsschreibung, die Quellenexegese und die Dateninterpretation durchgeführt werden. Entscheidender für den Irrtum ist der grobe Fehler, das Gestern, das wir nur noch interpretatorisch beeinflussen können, das Heute, das wir noch aktiv gestalten können und das Morgen, auf das wir zwar Einfluss nehmen können, von den Wirkungen dieses Einflusses durch unser Handeln wir uns aber aufgrund der unbekannten sonstigen, sich überwiegend erst noch ereignenden Einflüsse wir uns gar keinen Begriff machen können, zu einer Geschichte zusammenzufügen, die Wahrheit beansprucht.
Noch einmal: Putnam beging diesen Fehler nicht. Er irrt nur insoweit, als er glaubt, die Geschichte liefere Argumente, warum eine bestimmte Zukunft wünschenswerter und besser sei als eine andere. Dazu bedarf es keiner Geschichte. Rifkin aber beging diesen Fehler ganz offensichtlich.
Fazit: Der Blick des Historikers lohnt, um sich in der Welt, in der man lebt, orientieren zu können. Je mehr wir sehen, lesen, hören, desto besser können wir uns orientieren. Ob wir uns „richtig“ orientieren steht dahin, denn wir kennen keine zeitlos gültigen Maßstäbe für ein solches „Richtig“. Aber immerhin können wir zuversichtlich sein, dass wir uns mit einer historischen Perspektive besser orientieren können als ohne sie. Das ist sicherlich ein recht dünnes Ergebnis für viele Seiten Text. Aber manchmal ist es auch hilfreich, wenn man weiß, wie wenig man weiß, solange man überhaupt etwas weiß.
In der nächsten Folge übertragen wir die Vorteile und Grenzen historischer Betrachtungen von der Makrosicht, dem Blick auf Epochen, auf die Mikroebene einzelner Unternehmen. Wir entfernen uns von den Historikern und wenden uns den Analysten zu, denn die sind eigentlich nichts anderes als Historiker.