Die genormte Sprache

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Content is King?
Die genormte Sprache

In meinem letzten Post schrieb ich darüber, wie leicht sich die Venture Capital dominierte StartUp-Blase von der öffentlichen Meinung beeinflussen lässt. Ich hatte dies am Beispiel der zweiten, ChatGPT-induzierten Begeisterungswelle der VCs für die Themen und Geschäftsmodelle von KI-StartUps deutlich gemacht.

Über „öffentliche Meinung“ und „veröffentlichte Meinung“ ist viel geschrieben worden. Das Thema ist heikel. Doch meine Frage hat keinen politischen Hintergrund, jedenfalls keinen vordergründig politischen. Mir geht es um Folgendes: Können wir angesichts der Vielfalt der parallel nebeneinander existieren Social Media-Blasen überhaupt noch von einer öffentlichen Meinung sprechen?

Meine Antwort: Ich fürchte ja. Denn eines der vielen wirklichen Ärgernisse, die Social Media mit sich bringen, ist, dass man Themen und Inhalte, Content, nicht nur zielgruppengerecht verpacken muss, sondern außerdem Kanal-gerecht, um registriert zu werden. „Kanalgerecht“ bedeutet: Normiert und standardisiert. Spezifischer, individueller Content wird in fortschreitendem Maß bis zur Unkenntlichkeit abgeschliffen, austauschbar. In Zeiten der Mass Customization via Social Media werden originelle Inhalte zunehmend rar. Klingt das kontraintutiv?

Zielgruppengerecht verkaufen ist nicht dasselbe wie normiert schreiben

Wir schimpfen im Westen über Diktaturen, die ihre Bevölkerungen manipulieren und drangsalieren. Dabei lassen wir uns bereitwillig und zwar am laufenden Band selbst von Meta, Google, Baidu und X manipulieren. Wir merken es nur nicht, denn es geschieht still und leise.

Eine Botschaft unterschiedlichen Zielgruppen jeweils anders „verkaufen“ zu müssen, damit der mitgeteilte Sachverhalt oder die Sichtweise oder der Standpunkt von einer Leserin, Hörerin, Seherin (und deren männlichen Couterparts) verstanden, akzeptiert, geteilt bzw. bestritten, kritisiert und angegriffen werden kann, das kennt die Menschheit seit eh und je; daran haben wir uns im Lauf der Jahrtausende zunächst auf den Marktplätzen und inzwischen zu Hause im Wohnzimmer oder am Computer gewöhnt. Wir begrüßen es auch – zurecht, denn es enstpricht uns als kommunikativen und zielorientierten Wesen.

Demokratie beispielsweise würde nicht gut funktionieren, wenn zwar die „Presse-“ bzw. „Medienfreiheit“ staatlich garantiert bliebe, es aber für alle Menschen nur mehr oder weniger ähnliche, genormte Inhalte gäbe.

Niemand erwartet von einem BILD-Artikel die gleiche Argumentationstiefe wie von einem Meinungsbeitrag in der FAZ oder NZZ. Und keiner käme auf die Idee, einen Fachbeitrag in Nature mit einer Schlagzeile aus der Sun betiteln zu wollen, selbst wenn der zufälligerweise einmal passen sollte (was zugegebenermaßen selten der Fall sein dürfte). Mehr noch: Wir wünschen und erwarten sogar, dass uns ein- und dasselbe Medium eine ganze Bandbreite unterschiedlicher Journalistentypen mit jeweils anderem Mitteilungsstil und jeweils anderer mitteilender Persönlichkeit begegnet und wir also ein- und denselben Dateninhalt von ein- und demselben Kanal, ganz unterschiedlich interpretiert, konturiert und stilisiert dargeboten bekommen.

So erst werden wir in die Lage versetzt, aus dem Bild anderer ein eigenes Bild zu formen, aus dargebrachten Daten, Information zu gewinnen. Medienvielfalt ist nicht ohne Grund im Grundgesetz verankert.

Social Media dagegen zwingen uns beim Erstellen unseren Posts oder Videos, unseren persönlichen Stil und unsere individuelle Note zugunsten von Googles und anderer Monopolisten Wohl ab- oder mindestens hintanzustellen, falls wir große Reichweiten erzielen wollen. Und sie normieren uns, auch nur solchen Inhalt rezipieren zu wollen.

Content SEO: „Professionell bedeutet: Maximal genormt

Mein sehr guter SEO-Dienstleister sagt mir, ich müsse in meinen Blog Posts soundso häufig die Keywords a, b, c, d, e verwenden und meine Sätze bitte deutlich kürzen und außerdem weniger Nebensätze bilden. Dieser SEO „Stilberater“ spricht, BTW, kein Wort Deutsch. Er sitzt in Dhaka, Bangladesh. Thomas Mann hätte als Blogger keine Chance. Proust auch nicht. Joyce sowieso nicht. Hemingway vielleicht. Aber sie mussten auch nicht bloggen oder anderweitig posten, um registrtiert zu werden. Leider wird es nicht möglich sein herauszubekommen, ob die genannten Autoren über die Zeit ihren Stil durch den Gebrauch von Social Media bewusst oder unbewusst geändert hätten.

Mit SEO lässt sich heute noch Geld verdienen, vorerst. Ich bezweifele nämlich, dass technischem und Content-SEO ein langes Leben beschieden sein wird. ML kann das auch. Die „guten“ Plugins sagen mir heute schon, ganz ohne humane Berater, was ich tun muss, um meinen Text oder mein Video zu „verbessern“. Wenn ich auf WordPress bloggen will, sagt mir ein KI-gesteuertes Sprachanalyse-Tool in den Ampelfarben Rot, Gelb und Grün, ob mein Beitrag den Anforderungen der Algorithmen genügt und daher hinreichend oft von den Crawlern gefunden werden wird oder eben nicht.

Die Reichweite meiner Informationen wird zu einer Funktion optimal nach Googles, TikToks, METAs und Xs – geheimen – Wünschen geformten Anforderungen. Denn es sind natürlich nicht die Algorithmen selbst, die hier normieren, sondern die humanen Entwickler, die sie entwickeln und aus den Texten der User lernen lassen. Je besser sich Texte nach externer Vorgabe clustern lassen, desto leichter fällt den Algos das „Lernen“: Und eines ist sicher: Sie werden so trainiert, dass eine möglichst hohe Zahl an Menschen die Texte a) überhaupt lesen möchte, b) verstehen kann und sich c) reaktiv zu ihnen verhalten wird.

Wer sich der Mühe solcher „Optimierung“ nicht unterziehen möchte oder sich aus anderen Gründen sperrt, bekommt keine oder jedenfalls signifikant viel weniger Reichweite. „Professionell“ auf Social Media unterwegs sein bedeutet maximal genormt zu kommunizieren.

Einwände? Gegen das Vorgesagte lässt sich einiges einwenden: Facebook, Influencer und die Regeln der Sprache sui generis.

Facebook
Meta sagt uns Usern ja, die Idee von Facebook sei es, mit seinen „Freunden“ auf der Welt im Gespräch zu bleiben – nicht mehr und auch nicht weniger. Da spiele es doch keine Rolle, wie reichweitenkonform man kommuniziere.
Dabei wissen wir alle, dass das nicht stimmt. Die Idee von Meta ist es, User zu veranlassen sich möglichst lange auf ihren Seiten aufzuhalten und dabei möglichst viele userspezifische Daten zu hinterlassen, einschließlich der Daten, die die User schon auf anderen Seiten hinterlassen haben.

Zugegeben: Wenn aufgrund eines global genormten Stils (egal ob Schreibstil, Bild-Stil, Mode-Stil, Präsentations-Stil oder Redestil) alle Welt nahezu das Gleiche sagen oder tun würde, dann wären diese Daten nicht sonderlich interessant. Doch das ist eine Herausforderung für Metas Kunden. Wenn sich alle Welt tendenziell auf ein genormtes Mittelmaß zubewegt, dann wird der Werbekuchen dadurch nicht kleiner, nur fader.

Noch ein Meta-Einwand: Es gibt doch WhatsApp! Das ist ja nichts anderes als modernes Telefonieren mit einer oder mehreren Personen! Da kann ich doch reden, schreiben, posten und chatten wie mir der Schnabel gewachsen ist?

Stimmt! Doch ist es nicht augenfällig, wie genormt sich unser Kommunikationsverhalten auch auf WhatsApp als Folge unseres Postens bei Facebook, LinkedIn, TikTok etc. inzwischen ausnimmt? Wir normieren uns ohne Zwang, aus reiner Gewohnheit, weil die genannten Plattformen es uns so beigebracht haben.

Emojis verwenden bedeutet seine Rezipienten für doof zu verkaufen

Wir scheuen uns z.B. zunehmend, subtil und gut Ironie auszudrücken, weil wir mit einem schnell hingeworfenen zwinkernden Smiley fast das Gleiche bewirken können. Das zwinkernde Smiley sagt meinen Lesern: Das war jetzt nicht ganz ernst gemeint. Ich unterstelle meiner Leserin und meinem Leser sicherheitshalber ein bisschen doof zu sein, denn was ich sage könnte ja missverstanden werden. Die Ironie kommt mit einem großen „Ausrufezeichen“ und wird dadurch eigentlich obsolet. Denn zum Wesenskern der Ironie gehört, dass sie nicht über einen Lautsprecher daherkommt.

Mit dem zwingernden Smiley erspare ich mir die Mühe, mich präziser, gewandter, treffender, kurz besser ausdrücken zu müssen und erreiche, dass der Empfänger meiner Botschaft mich ganz sicher nicht falsch versteht. „Ein Bild (oder ein Smiley), sagt mehr als tausend Worte“, heißt es. Das stimmt. Es sagt potenziell alles gleichzeitig, ist interpretationsoffen und verbirgt, was ich tatsächlich genau gemeint habe.

Wenn das aber verborgen bleibt und nicht mehr mitgeteilt wird, dann verschwindet es über kurz oder lang vollkommen aus dem Diskurs. Irgendwann haben wir dann eine gruselig verarmte, binäre schwarz-weiß-Welt vor uns, weil die Struktur unserer Aussagen über sie immer schlichter, binärer wird. Ernst gemeint =1, nicht ernst gemeint= 0. Aus der Verarmung unserer Sprache resultiert eine Verarmung unserer Gefühle und unseres Denkens und damit unserer Welt, denn was einem öffentlichen Diskurs konstant verborgen bleibt, existiert irgendwann nicht mehr. Solipsisten, Leibniz‘ Monaden mit der Fähigkeit wahrzunehmen und zu begehren, kann es nicht geben. Ludwig Wittgenstein brachte uns das in seinen Philosophischen Untersuchungen bei.  

Influencer

Influencer werden gehört und gesehen – unabhängig davon, was und wie sie etwas sagen oder schreiben.

Auch das ist richtig. Doch sie werden noch besser gehört und gesehen, wenn sie noch normgerechter reden oder schreiben oder Bilder zeigen. Viele Influencerinnen und Influencer sind genau deshalb, weil sie dies perfekt beherrschen, also wissen, wie man maximal gelikt wird, zu Influencern geworden.

Als Instrumente ihrer Auftraggeber kommen sie also nicht drum herum, normgerecht zu sprechen oder zu schreiben, sich normgerecht zu inszenieren. Die einzige Ausnahme: Sie reden oder texten oder zeigen bildlich etwas so radikal aus der Norm Fallendes, dass dadurch die ansonsten ausbleibende „Awareness“ überkompensiert wird.

Würde Manuel Neuer vorführen, wie man sich bei Skifahren die Beine bricht anstatt zu zeigen oder darüber zu sprechen, wie toll Bayern ist oder wie gerne er Tore hält, hätte er ohne Frage eine phänomenal große Reichweite. Insoweit dieser Influencer aber eine Botschaft seines Auftraggebers übermitteln soll, wird er sich mit solchen Aktionen zurück halten.

Regeln gibt es überall

Wenn man den semiotischen Empfehlungen der SEO-Dienstleister folgt, macht man genau dasselbe, was beispielsweise auch ein Journalist tut, der lehrbuchgerecht eine Nachricht verfasst oder spricht oder was Handwerker und Künstler tun, wenn sie ihr Fach technisch beherrschen.

Das ist ein gutes Argument. Auf den ersten Blick.

Richtig ist: Auch Sprache ist ein Regelwerk. Videos drehen ist ein Regelwerk – egal ob mit dem Smartphone oder mit der Profi-Kamera. Auch große Komponisten, Mozart, Beethoven, Bach, Schumann, Schubert und Chopin haben innerhalb der zu ihrer Zeit angesagten Regelwerke – Konzertformen, Symphonieformen, Sonatenformen, Kadenzregeln usf. – komponiert und aufgeführt. Und in der Tat: Sie alle haben die Möglichkeiten ausgereizt, haben hart an der Grenze des innerhalb dieser Formen „Zulässigen“ gewagt zu experimentieren und die Grenzen immer wieder auch bewusst ein wenig verschoben. Vergleichbares lässt sich doch auch mit Tweets, Blog Posts, Stories, Reels veranstalten?

Künstler konnten dies tun, weil das keinen Deut an der Zahl oder Qualität ihrer Rezipienten änderte. Die stand von vorneherein, jedenfalls in groben Zügen, fest. Sehr wohl konnte es aber eine große Rolle spielen, wer der Adressat, die Zielgruppe, eines Kunstwerks war. Denn das war in aller Regel der Auftraggeber. Das Ausreizen und gelegentliche Verschieben der Grenzen des formal Zulässigen konnte auf sein Wohlwollen oder seine Ablehnung stoßen. Das änderte aber nichts an der von den Künstlern erzeugten Awareness. Der Fürst machte sein Wohlwollen und seine Zahlungsbereitschaft nicht davon abhängig, ob der Künstler für eine große oder kleine Zuhörerschaft komponierte. Entscheidend war, dass seinen Kreisen und ihm selbst das Stück gefiel. Der Content sollte gefallen. Er war King.

Content als Funktion von Reichweite

Dass ist er in unserer Social Media-dominierten Welt definitiv nicht mehr. Content ist jetzt eine Funktion der von seiner Urheberin oder seinem Urheber angestrebten Reichweite. Das klingt verrückt und ist es das auch. Das, was ich sage, ist eine Funktion dessen, wie ich es sage?? Genau! Es spielt keine Rolle mehr, was gesagt oder geschrieben wird. Entscheidend ist, dass es, was immer es auch sei, hinreichend häufig registriert wird und sich die Zielgruppen dazu affirmativ oder negativ verhalten. Teilweise gehen wir als Rezipienten sogar noch weiter und zeigen nur noch in Abhängigkeit davon, wer der Autor eines Posts ist, den Daumen nach oben oder unten. Wir haben gar nicht die Zeit, uns das, was da gesagt oder gezeigt wird, näher anzugucken. In diesem Fall interessiert uns als Rezipienten nur noch, wer da etwas gesagt oder gezeigt hat. Das ist die fröhliche KI-Welt, in der Influencer tatsächlich ihre Avatare losschicken können, um mit jedem einzelnen von uns “Konversation” zu spielen.

Wenn ich Waschpulver, Eiscreme oder Bankdienstleistungen verkaufe und mich dazu auch bzw. vor allem der Social Media-Kanäle bediene, dann ist ein solches Vorgehen tatsächlich vernünftig. Wie es in diesem Fall mit Corporate Social Responsibility aussieht, ist allerdings eine andere Frage. Schlecht natürlich.

Und etwas ganz anderes ist es, wenn ich authentische Meinungen, Standpunkte, Ideen, wahre oder auch falsche Sachverhalte mitteilen möchte. Der Primat der Awareness vor der Wahrhaftigkeit und Authentizität wird dann zum Eigentor. Ich kann gehört und gesehen werden – unter der Voraussetzung, dass ich mich für das, was ich da von mir gebe, schämen “möchte” oder unter der Voraussetzung, dass das, was ich da sage, sowieso belanglos ist. Wenn ich mich nur noch lege artis socials instrumentorum verbreiten wollte, um Gehör zu finden, dann müsste ich es so machen, dass das, was da verbreitet werden soll, optimal durch alle „sozialen” Kanäle schlüpft und von den Adressaten auf jeden Fall registriert wird.

Mein SEO-Spezialist sagt es glasklar: „You’ve got to decide: You want to be at the top of Google’s list or you don’t? It’s up to you.” Für mich klingt das wie die freundliche Offerte zum Selbstmord: „Möchtest Du Dir den Schuss selber geben? Oder sollen wir es lieber für Dich machen?“ Du hast die Wahl!

Vielen Dank!

PS: Ich sollte hinzufügen, dass es auch in der Social Media – Welt Ausnahmegestalten gibt, Menschen, die singulär gut schreiben oder inszenieren können, witzig zum Beispiel, und die dabei in der Lage sind, ihren Wort- oder Bildwitz, ohne nennenswerten Verlust an Aussagekraft, kanalgerecht in den Social Media auszubreiten. Solche Influencer sind natürlich ein Segen. Doch ihre Kunst ist so extrem rar, dass leider nicht damit zu rechnen ist, dass sie Schule machen können. Social Media sind für die Masse der Menschen konzipierte Instrumente, und diese Masse prägt uns, die Rezipienten(masse), wenn wir selbst posten, weitaus stärker als die wenigen Ausnahmeerscheinungen, die es glücklicherweise auch gibt.

PPS: Es gibt Kanäle, die sich für bestimmte Formen der traditionellen Mitteilung exzellent eignen. Spontan denke ich an X als Medium für Aphoristiker. Aber es ist eben eine verkehrte Welt, in der uns die technisch gebotene Form zwingt, zu mehr oder weniger guten Stilisten zu werden. Vorstellbar ist allerdings, und das gibt Hoffnung, dass sich zumindest Künstler und Schreiberlinge zunehmend von dem Zwang, Awareness generieren zu wollen, emanzipieren können. Dann würden wir Zeiten erleben, in denen SEO-Konformität, dort zumindest, ein verlässliches Merkmal für Trash wäre.